Predigen & Theologie

Stolpersteine der Auslegungspredigt

Von Mike Gilbart-Smith

Mike Gilbart-Smith ist Pastor der Twynholm Baptist Church in Fulham (England).
Artikel
01.06.2023

Mark Dever definiert die Auslegungspredigt als eine Predigt, welche die Hauptaussage eines bestimmten Bibelabschnitts zur Kernaussage der Predigt macht. Und damit hat er recht.

Allerdings habe ich schon Predigten gehört (und selbst gehalten!), die auslegend sein wollten, aber daran gescheitert sind. Im Folgenden also zwölf Fallen, in die man tappen kann:

  • fünf, die den Bibeltext missachten, indem sie die Botschaft des Bibelabschnitts nicht zur Botschaft der Predigt machen
  • fünf, die den Text nicht mit der Gemeinde in Verbindung bringen
  • zwei, die nicht beachten, dass Predigen ultimativ Gottes Werk ist.

Diese Beobachtungen stammen nicht alle von mir. Viele habe ich in den 90ern in der Eden Baptist Church in Cambridge kennengelernt und andere sind mir seitdem hier und da begegnet. Vor ein paar Jahren schrieb ich bereits einen ähnlichen Artikel und habe daraufhin einige Vorschläge für Ergänzungen erhalten, die ich im aktuellen Artikel eingearbeitet habe. Ich bin sicher, dir fallen noch weitere ein.

Stolpersteine, die den Text übersehen

1. Die „unfundierte Predigt“: Der Text wird falsch verstanden

In dieser Predigt werden Dinge gesagt, die zwar wahr sind, die ihren Ursprung aber keinesfalls in der richtigen Auslegung dieses konkreten Bibeltextes haben. Der Prediger geht unachtsam mit dem Inhalt des Textes oder dem Textzusammenhang um. So könnte er bei einer Predigt über David und Goliath etwa die Frage stellen: „Wer ist der Goliath in deinem Leben und was sind deine fünf flachen Steine, um ihn zu besiegen?“

Wenn ein Prediger nicht tief in die Wahrheit des Wortes Gottes eindringt, um die Botschaft seiner Predigten davon bestimmen zu lassen, lässt er sich wahrscheinlich von seinen eigenen Ideen und Vorstellungen leiten –und nicht von denen Gottes.

2. Die „Sprungbrett-Predigt“: Die Aussage des Textes wird nicht beachtet

Ähnlich sieht es bei einer Predigt aus, bei der eine Nebensächlichkeit des Textes zum Hauptpunkt gemacht wird. Stell dir eine Predigt über die Hochzeit in Kana in Johannes 2 vor, die sich hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, ob Christen Alkohol trinken sollten – ohne die Herrlichkeit Christi im Neuen Bund zu erwähnen, die durch das Verwandeln von Wasser in Wein sichtbar wird.

Ein großer Vorteil des Vers-für-Vers-Predigens besteht darin, dass der Prediger gezwungen wird, über Themen zu sprechen, die er sonst eher vermeiden würde. Auch wird er gezwungen, jene Themen angemessen zu behandeln, die er sonst überbetonen würde. „Unfundierte“ und „Sprungbrett“-Predigten können diese Vorteile der fortlaufenden Auslegungspredigt unwissentlich zunichtemachen, wodurch Gottes eigentliche Botschaft verschwiegen oder umgangen wird.

3. Die „dogmatische Predigt“: Der Reichtum des Textes wird nicht beachtet

Gott hat bewusst „auf vielfältige Weise“ (Hebr 1,1) zu uns gesprochen. Viele Predigten ignorieren die literarische Gattung eines Bibelabschnitts aber und behandeln Geschichte, Dichtung, Brief und Offenbarung alle auf die gleiche Weise – als eine Aneinanderreihung von Lehraussagen. Natürlich sollte jede Predigt unverrückbare Wahrheiten vermitteln, sollte sich darauf aber nicht beschränken. Der Textzusammenhang und das Textgenre des Abschnitts muss dazu führen, dass z.B. eine Predigt über das Hohelied anders klingt als eine über Epheser 5. Die Hauptaussage mag ganz ähnlich sein – sie wird aber anders vermittelt. Die Vielfalt der Schrift sollte durch die Predigt nicht reduziert, sondern durch die Berücksichtigung der literarischen Gattung erst recht wertgeschätzt und vermittelt werden. Eine Erzählung sollte uns helfen, mitzufühlen. Dichtung sollte unsere Emotionen ansprechen. Offenbarung und Prophetie sollten uns in Ehrfurcht staunen lassen.

4. Die „Abkürzungspredigt“: Der Bibeltext kommt kaum vor

Bei dieser Form des Predigens ist die exegetische Arbeit und damit der Vorgang des Auslegens nicht ersichtlich. Hier hat der Herr zwar durch sein Wort die Richtung vorgegeben. Bewusst ist das aber nur dem Prediger. Dies kann dazu führen, dass die Gemeinde hinterher sagt: „Was für eine wunderbare Predigt!“, statt: „Was für ein wunderbarer Bibeltext!“

Lasst uns die Gemeinde ermutigen, Gottes Stimme zu hören und nicht nur unsere, indem wir sie immer wieder auf den Text verweisen: „Schaut, was Gott in Vers fünf sagt!“, statt: „Hört gut zu, was ich jetzt sage!“

5. Die „Christus-lose Predigt“: Die Predigt weist nicht auf den Erlöser hin

Jesus wies die Pharisäer zurecht, indem er sagte:

„Ihr erforscht die Schriften, weil ihr meint, in ihnen das ewige Leben zu haben; und sie sind es, die von mir Zeugnis geben. Und doch wollt ihr nicht zu mir kommen, um das Leben zu empfangen.“ (Joh 5,39–40)

Wie traurig, dass selbst wir, die wir zu Jesus gekommen sind, um das Leben zu empfangen, mit unserer Gemeinde einen Bibelabschnitt lesen ohne aufzuzeigen, was er über Christus sagt. Das geschieht etwa, wenn wir Texte aus dem Alten Testament in Moralpredigten verwandeln oder sogar die vier Evangelien ohne Christus und ohne das Evangelium verkündigen. Wie furchtbar wäre eine Predigt über die Begebenheiten im Garten Gethsemane, in der uns hauptsächlich Tipps zum Umgang mit Stress vermittelt werden.

Wenn wir uns Gottes Wort wie ein großes Rad vorstellen, ist Christus die Nabe und das Evangelium die Achse. Nur wenn wir uns an den Speichen entlang hin zur Nabe bewegen und aufzeigen, was der Bibeltext über Christus zu sagen hat und wie er mit dem Evangelium zusammenhängt, haben wir die Stelle treu ausgelegt.

Stolpersteine, welche die Gemeinde übersehen

6. Die „exegetische Predigt“: Der Text wird nicht angewandt

Während die „unfundierte Predigt“ den Text nicht beachtet, wird bei der „exegetischen Predigt“ die Gemeinde übersehen. Manche Predigten, die den Anspruch erheben, Auslegungspredigten zu sein, werden als langweilig und irrelevant abgetan – und das zu Recht! Man könnte genauso gut einen Kommentar lesen. Was über den Bibeltext gesagt wird, ist zwar richtig. Es ist aber keine Predigt, sondern ein Vortrag. Man mag viel über Paulus’ Verwendung des Genitivus absolutus lernen, aber wenig über das Wesen Gottes oder des menschlichen Herzens. Nur der Intellekt der Gottesdienstbesucher wird angesprochen, sonst nichts. Wahre Auslegungspredigten werden zwar den Intellekt ansprechen, aber auch das Herz berühren und den Willen formen.

Wenn eine Gemeinde regelmäßig solchen „exegetischen Predigten“ ausgesetzt ist, kann der Eindruck entstehen, nur thematische Predigten seien interessant. Außerdem wird eine Art des Bibellesens vorgelebt, die dem Wort Gottes zwar treu ist, durch die man aber nicht herausgefordert oder verändert wird.

7. Die „unpassende Predigt“: Der Text wird auf eine andere Gemeinde angewandt

Viel zu viele Predigten fördern Stolz in einer Gemeinde, indem sie andere Gemeinden schlecht machen. Die Botschaft des Textes wird entweder nur auf Ungläubige angewandt und suggeriert damit, das Thema habe nichts mit der Gemeinde zu tun, oder es werden Probleme angesprochen, die in der eigenen Gemeinde kaum vorkommen.

So wird die Gemeinde aufgebläht und freut sich, wie der Pharisäer in Jesu Gleichnis, nicht so zu sein wie die anderen. Die Reaktion besteht nicht in Buße und Glauben, sondern in Gedanken wie: „Hätte doch Frau Mayer diese Predigt gehört!“, oder: „Den Methodisten würde diese Predigt mal guttun!“

Solches Predigen wird die Gemeinde in Selbstgerechtigkeit wachsen lassen – nicht in Gottesfurcht und Heiligung.

8. Die „persönliche Predigt“: Der Text wird nur auf den Prediger angewandt

Es kann einem Prediger schnell passieren, nur darüber nachzudenken, wie der Bibeltext in seine eigene Situation passt, und dies dann auf die Gemeinde zu übertragen. Für mich ist es sicherlich am einfachsten zu erkennen, was der Bibeltext einem vierzigjährigen, weißen, britischen Mann zu sagen hat, der eine Frau und sechs Kinder hat und als Pastor in einer kleinen Gemeinde im Westen Londons arbeitet. Das mag für meine Stille Zeit schön sein, hat aber keinen Nutzen für den Rest der Gemeinde, der nicht dieser Beschreibung entspricht.

Welche Anwendungen ergeben sich aus dem Text für den Teenager und die alleinerziehende Mutter? Für die vierzigjährige Frau, die sich nach einem Ehemann sehnt, und für den Asylbewerber? Für den Arbeitslosen oder den muslimischen oder atheistischen Gast? Für die Gemeinde als Ganzes oder für den Busfahrer? Für die Büroangestellte, den Studenten oder die Hausfrau?

Die persönliche Predigt kann dazu führen, dass die Gemeinde denkt, die Bibel sei nur für den „Berufschristen“ von Bedeutung und die einzig sinnvolle Aufgabe im Leben sei es, hauptberuflich für eine Gemeinde oder christliche Organisation zu arbeiten. Das kann auch dazu führen, dass die Gemeinde einen Götzen aus ihrem Pastor macht und glaubt, ihr Leben der Nachfolge sozusagen durch ihn leben zu können. Es beraubt die Gemeinde der Möglichkeit, das Wort Gottes auf jeden Bereich ihres eigenen Lebens anwenden zu lernen. Es beraubt sie der Möglichkeit, es an Menschen weitergeben zu lernen, die in einer ganz anderen Situation sind als sie.

9. Die „heuchlerische Predigt“: Der Text wird auf alle außer dem Prediger angewandt

Der entgegengesetzte Fehler zur „persönlichen Predigt“ ist die Predigt, bei der ein Verkündiger das Wort zwar lehrt, aber nicht vorlebt, was es bedeutet, unter dem Wort zu stehen.

Manchmal muss ein Prediger „du“ und „ihr“ sagen anstatt „wir“. Doch wenn ein Prediger immer „du“ und „ihr“, aber nie „wir“ sagt, lebt er nicht vor, was es bedeutet, nur ein Unter-Hirte zu sein, der als Schaf auch selbst die Stimme seines Ober-Hirten hören muss. Der ihn auch kennen und ihm nachfolgen muss. Der auf ihn vertraut, um ewiges Leben und sichere Hoffnung zu empfangen.

Ein solcher Prediger wird den gegenteiligen Fehler wie die Gemeinde machen, die versucht, ihr christliches Leben durch ihren Pastor zu leben: Er wird von seiner Gemeinde erwarten, dass sie sein Leben der Nachfolge an seiner Stelle lebt. Er wird davon ausgehen, dass seine Nachfolge sich ausschließlich innerhalb seines Dienstes abspielt. Dadurch ordnet er sich nicht als Jünger dem Wort Gottes unter, sondern drängt es anderen auf und stellt sich selbst darüber.

10. Die „ungeeignete Predigt“: Der Text wird falsch auf die Gemeinde angewandt

Manchmal wird der Abstand zwischen dem Bibeltext und der Gemeinde falsch verstanden, wodurch die Anwendung in der damaligen Zeit fälschlicherweise direkt auf die gegenwärtige Situation übertragen wird. Wenn etwa ein Prediger kein richtiges biblisches Verständnis von Anbetung hat, wird er womöglich Texte über den Tempel im Alten Testament fälschlicherweise auf das Kirchengebäude im Neuen Testament beziehen, statt sie als in Christus und seinem Volk erfüllt zu sehen. Prediger des sogenannten Wohlstandsevangeliums wenden die Versprechen materiellen Segens, die den treuen Israeliten im Alten Bund gemacht wurden, pauschal auf die Menschen des Neuen Bundes an.

Stolpersteine, die den Herrn übersehen

Im Predigtunterricht wird vom Text und der Gemeinde oft als von den „zwei Horizonten der Predigt“ gesprochen. Der Prediger muss aber erkennen, dass hinter diesen beiden Horizonten der Herr selbst steht, durch den der Text eingegeben wurde und der in der Gemeinde am Wirken ist.

11. Die „Predigt ohne Leidenschaft“: Die Botschaft des Textes wird gesprochen, nicht gepredigt

Es kann vorkommen, dass ein Prediger den Bibeltext genau richtig verstanden hat und in korrekter und tiefgründiger Weise auf die Gemeinde anwendet. Er hält die Predigt aber so, als würde er aus einem Telefonbuch vorlesen. Es wird nicht ersichtlich, dass Gott selbst in der Predigt zu seinem Volk spricht. Wenn der Prediger nicht erkennt, dass Gott selbst durch sein Wort mit seiner Gemeinde ringt, sie ermutigt, zurechtweist, unterweist, ermahnt, verändert und heiligt, wird er ohne jegliche Leidenschaft predigen – ohne Ehrfurcht oder Freude oder Trauer. Es sind nur Worte.

12. Die „kraftlose Predigt“: Die Predigt geschieht ohne Gebet

Oft wird so viel Zeit darauf verwendet, den Bibeltext zu studieren und die Predigt zu schreiben, dass dem Gebet nicht viel Zeit gewidmet wird.

Ein Prediger, der zwar hart arbeitet, aber wenig betet, vertraut viel auf sich selbst und kaum auf den Herrn. Dies ist eine der größten Versuchungen für einen Auslegungsprediger, da aufmerksame Gottesdienstbesucher eine falsche Auslegung oder unpassende Anwendung viel leichter bemerken könnten. Aber welchen Einfluss das Gebet auf die Wirkung der Predigt hatte, weiß (bis zu dem Tag, an dem alle Dinge offenbar werden) nur der Herr. Die „Horizonte“ des Herrn und der Ewigkeit sollten dem Prediger ultimativ wichtiger sein. Die Horizonte des Textes und der Gemeinde sollten ihm sogar nur deshalb etwas bedeuten, weil die Realität des Herrn und die Wirklichkeit der Ewigkeit zwar unsichtbar, aber doch von unendlicher Bedeutung sind.

Fazit

Auslegungspredigten sind wichtig für eine gesunde Gemeinde, da sie es ermöglichen, den ganzen Ratschluss Gottes auf die ganze Gemeinde anzuwenden. Möge der Herr die Prediger seines Wortes ausrüsten, damit seine Stimme gehört und ihr gehorcht wird.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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