Mitgliedschaft & Gemeindezucht

Leitfaden für Gemeindezucht

Von Jonathan Leeman

Jonathan Leeman ist der Redaktionsleiter von 9Marks. Er ist Herausgeber der 9Marks Buchreihe sowie des 9Marks Journal. Jonathan lebt mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in einem Vorort von Washington DC (USA) und ist Ältester der Cheverly Baptist Church.
Artikel
03.02.2021

Was würdest du von einem Trainer halten, der taktische Anweisungen gibt, aber nie die Kondition und Fitness seiner Spieler kontrolliert und steigert? Oder von einer Mathematiklehrerin, die die Inhalte erklärt, aber nie die Fehler ihrer Schüler korrigiert? Oder von einem Arzt, der über Gesundheit spricht, aber das Krebsgeschwür ignoriert?

Das ist nur die halbe Miete, oder? Zu ihrer Aufgabe gehört noch mehr. Ein Trainer bringt seinen Sportlern nicht nur Taktik bei, sondern lässt sie auch eisern für den nächsten Wettkampf trainieren. Eine Lehrerin erklärt ihren Schülern nicht nur Inhalte, sondern korrigiert auch ihre Fehler. Ein Arzt fördert nicht nur eine gesunde Lebensweise, sondern bekämpft auch Krankheiten. Richtig?

Schön und gut. Aber was hältst du von einer Gemeinde, die ihre Mitglieder lehrt und Jüngerschaft lebt, aber nie Gemeindezucht übt? Ist das in deinen Augen vernünftig? Mir scheint, dass es viele Gemeinden so sehen, da es in jeder Gemeinde Lehre und Jüngerschaft gibt, aber nur wenige Gemeindezucht praktizieren. Das Problem an der Sache ist, dass es ungefähr so sinnvoll ist, Menschen zu Jüngern zu machen, ohne sie in ihrer Nachfolge zu korrigieren, wie es sinnvoll wäre, wenn der Arzt die Tumore in deinem Körper ignoriert.

Ich verstehe die Zurückhaltung beim Thema Gemeindezucht. Es ist aus vielerlei Gründen schwierig, Gemeindezucht zu praktizieren. Die mangelnde Bereitschaft, Gemeindezucht zu praktizieren, die viele von uns empfinden, legt aber auch nahe, dass wir uns für weiser und liebevoller als Gott halten. „Denn wen der Herr lieb hat, den züchtigt er, und er schlägt jeden Sohn, den er annimmt“ (Hebr 12,6). Wissen wir es besser als Gott?

Gott züchtigt seine Kinder um ihres Lebens, ihres Wachstums und ihrer Gesundheit willen: „[Gott züchtigt uns] aber zu unserem Besten, damit wir seiner Heiligkeit teilhaftig werden“ (Hebr 12,10). Ja, es ist schmerzhaft, aber es trägt Früchte: „Alle Züchtigung aber scheint uns für den Augenblick nicht zur Freude, sondern zur Traurigkeit zu dienen; danach aber gibt sie eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die durch sie geübt sind“ (Hebr 12,11). Eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit! Das ist ein wunderschönes Bild!

Gemeindezucht führt letztlich zum Wachstum der Gemeinde, so wie der Rosenschnitt zu mehr Blüten führt. Anders ausgedrückt: Die Gemeindezucht ist ein Aspekt der christlichen Jüngerschaft. Beide Worte stammen aus dem Wortfeld der Erziehung, was sowohl Lehre als auch Korrektur einschließt. Daher verwundert es nicht, dass die Gemeindezucht sich seit Jahrhunderten in zwei Typen einteilen lässt: in die „formende“ (oder: informelle) Gemeindezucht und die „korrektive“ (oder auch: formelle) Gemeindezucht.

Dieser Leitfaden soll eine Einführung in die Grundlagen der korrektiven Gemeindezucht geben. Wir beantworten die Fragen: Was? Wann? Wie? Warum? Letztere etwas ausführlicher.

Was ist Gemeindezucht?

Was ist korrektive Gemeindezucht? Gemeindezucht beschreibt die Praxis, Sünde im Leben der Gemeinde und ihrer einzelnen Mitglieder zu korrigieren. Diese Korrektur kann durch ein Gespräch unter vier Augen geschehen. Sie kann aber auch bedeuten, die Sünde einer Person zu korrigieren, indem ihr formell die Gemeindemitgliedschaft zu entzogen wird. Gemeindezucht geschieht auf verschiedene Weise, doch das Ziel ist immer, die Übertretungen gegen Gottes Gesetz unter Gottes Volk zu korrigieren.

Nicht vergeltend, sondern abhelfend, prophetisch und vorwegnehmend

Sünde zu korrigieren ist keine Vergeltungsaktion; es bedeutet nicht per se, Gottes Gerechtigkeit auszuführen. Vielmehr ist es abhelfend, prophetisch und vorwegnehmend, so zu handeln. Abhelfend bedeutet, dass der einzelne Christ und die Gemeinde an Gottesfurcht zunehmen – dass sie Gott immer ähnlicher werden. Wenn ein Gemeindemitglied zum Tratschen oder Lästern neigt, dann sollte ihn ein anderes Gemeindemitglied korrigieren, damit es aufhört zu tratschen und stattdessen Worte der Liebe aus seinem Mund kommen. Gott gebraucht seine eigenen Worte nicht, um anderen ungerechtfertigt Schaden zuzufügen, und sein Volk sollte es auch nicht.

Wenn wir sagen, dass Gemeindezucht prophetisch ist, bedeutet das, dass sie das Licht von Gottes Wahrheit auf unsere Fehler und Sünden wirft. Sie deckt das Krebsgeschwür im Leben des Einzelnen oder im Leben der ganzen Gemeinde auf, damit dieses herausoperiert werden kann. Die Sünde ist ein Meister der Tarnung. Tratschen kann zum Beispiel im Gewand „frommer Bedenken“ daherkommen. Die Person denkt vielleicht, dass ihre Worte vernünftig, ja sogar besorgt klingen. Doch die Gemeindezucht deckt die tatsächliche Sünde auf. Sie deckt dem Sünder und allen Beteiligten die Sünde auf, damit alle davon lernen und profitieren können.

Wenn wir sagen, dass Gemeindezucht vorwegnehmend ist, bedeutet das, dass sie im Hier ein kleines Bild des Gerichts darstellt, das vor einem noch größeren Gericht warnt, das noch bevorsteht (siehe z.B. 1Kor 5,5). Eine solche Warnung ist einfach gnädig. Stell dir einmal vor, ein Lehrer gibt einer Schülerin das ganze Schuljahr lang gute Noten, obwohl sie die Klausuren eigentlich nicht bestanden hat, nur um sie dann am Ende des Schuljahrs durchfallen zu lassen. Das wäre nicht gnädig! Ebenso sagt die Gemeindezucht liebevoll zu einer Person, die sich in Sünde verstrickt hat: „Pass auf, eine viel größere Strafe liegt vor dir, wenn du auf diesem Wege weitermachst. Kehre jetzt bitte um.“

Es überrascht nicht, dass Korrektur nicht auf Begeisterung stößt. Es ist schwer, Korrektur anzunehmen. Doch es ist Ausdruck von Gottes Barmherzigkeit, dass er sein Volk auf vergleichsweise kleine Weise vor dem großen Gericht warnt, das noch bevorsteht.

Biblisch-theologische Grundlagen

Hinter der Gemeindezucht steht eines der großartigsten Projekte der Heilsgeschichte – das Projekt, Gottes gefallenes Volk an den Ort zurückzubringen, an dem sie erneut in Gottes Bilde leben, während sie seine gute und lebensspendende Herrschaft über die ganze Schöpfung ausüben (Gen 1,26–283,1–6).

Adam und Eva sollten als Gottes Ebenbilder handeln. Das trifft ebenso auf das Königreich Israel zu. Doch Adam und Eva spiegelten Gottes Herrschaft nicht wider, weil sie lieber nach ihren eigenen Vorstellungen herrschen wollten. Deshalb wurden sie von Gottes Ort, aus dem Garten, verbannt. Israel hielt Gottes Gesetz nicht und spiegelte nicht Gottes Wesen für die Völker wider. Auch das führte zur Verbannung.

Als Geschöpfe, die in Gottes Bilde geschaffen sind, erzählen all unsere Taten von Natur aus von Gott. Sie sind wie Spiegel, die den Gegenstand, auf den sie gerichtet sind, abbilden. Das Problem an der Sache ist, dass die gefallene Menschheit Gottes Bild verzerrt, wie ein Zerrspiegel auf dem Jahrmarkt. Da die gefallene Menschheit Lügen erzählt, hat die Welt beispielsweise geschlussfolgert, dass man Gottes eigenen Worten nicht vertrauen kann. Auch er muss ein Lügner sein. Wie das Geschöpf, so auch der Schöpfer.

Gott sei Dank hat ein Sohn Adams, ein Sohn Israels, Gottes Gesetz vollkommen befolgt – derselbe, den Paulus als „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ beschreibt (Kol 1,15). Jetzt sind alle, die mit diesem einen Sohn eins sind, dazu berufen, dasselbe Bild widerzuspiegeln. Das lernen wir durch das Leben der Gemeinde und werden „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ dazu verwandelt (siehe 2Kor 3,18Röm 8,291Kor 15,49Kol 3,9–10).

Die Ortsgemeinden sollten die Orte auf der Erde sein, wo die Völker Menschen treffen können, die zunehmend besser ein zutreffendes und ehrliches Bild von Gott abgeben. Wenn die Welt die Heiligkeit, Liebe und Einheit der Ortsgemeinden betrachtet, wird sie besser verstehen können, wie Gott ist, und ihn preisen (z.B. Mt 5,14–16Joh 13,34–351Petr 2,12). Die Gemeindezucht ist daher die Reaktion der Ortsgemeinde darauf, wenn eines ihrer Mitglieder nicht Gottes Heiligkeit, Liebe und Einheit abbildet, weil es Gott ungehorsam lebt. Sie ist ein Versuch, falsche Bilder von Gott zu korrigieren, die im Leib Christi aufkommen, ähnlich, wie wenn man trübe Flecken von einem Spiegel wegpoliert.

Konkrete Texte

Jesus gibt den Ortsgemeinden in Matthäus 16,16–19 und 18,15–20 die Vollmacht, ihre Mitglieder zu korrigieren und Gemeindezucht zu üben. Die Schlüssel, um auf der Erde zu binden und zu lösen, von denen erstmals in Matthäus 16,19 die Rede ist, werden in Matthäus 18,15–20 der Ortsgemeinde gegeben. Auf diesen Text gehen wir später noch näher ein.

Paulus beschreibt an verschiedenen Stellen Fälle von Gemeindezucht, unter anderem in 1Kor 52Kor 2,6Gal 6,1Eph 5,111Thess 5,142Thess 3,6–151 Tim 5,19–202Tim 3,5 und Tit 3,9–11.

Johannes beschreibt in 2Joh 1,10 eine Form der Gemeindezucht. Judas scheint, in Jud 1,22–23 von Gemeindezucht zu schreiben. Die Liste ließe sich fortsetzen. Im Grunde geht es Jesus und den biblischen Autoren jedes Mal um Gemeindezucht, wenn sie ihre Zuhörer dazu aufrufen, gemeinsam die Sünde in ihrem Leben zu korrigieren.

Wann ist Gemeindezucht an der Zeit?

Wann ist Gemeindezucht an der Zeit? Die kurze Antwort: Wenn jemand sündigt. Doch die Antwort auf diese Frage hängt letztlich davon ab, von welcher Form der Gemeindezucht wir sprechen. Wir unterscheiden mit Jay Adams zwischen formeller und informeller Gemeindezucht. Informelle Gemeindezucht beinhaltet die Konfrontation mit der eigenen Sünde im vertraulichen Rahmen, während formelle Gemeindezucht ein offizielles Vorgehen auf Gemeindeebene beschreibt.

Jegliche Sünde, unabhängig davon, wie schwerwiegend sie ist, kann in einem Gespräch unter vier Augen zwischen zwei Brüdern oder Schwestern im Glauben angesprochen werden. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Geschwister für jede einzelne Sünde in ihrem Leben ermahnen sollten. Es bedeutet schlicht und ergreifend, dass jede Sünde, egal wie klein sie ist, in den Bereich fällt, den zwei Christen liebevoll und vertraulich miteinander ansprechen können, wenn es vernünftig erscheint.

Wenn wir uns der Frage zuwenden, welche Art von Sünde eine formelle oder gemeindeweite korrektive Gemeindezucht erfordert, ist etwas mehr Vorsicht geboten.

Biblische Listen

Einige ältere theologische Abhandlungen enthalten Listen, die die Frage beantworteten, wann es angemessen ist, formelle Gemeindezucht zu üben. Der kongregationalistische Pastor John Angell James schrieb beispielsweise, dass fünf Vergehen Anlass für formelle Gemeindezucht geben:

  1. schändliche Laster und Unzucht jeder Art (z.B. 1Kor 5,11–13);
  2. das Bestreiten christlicher Lehre (z.B. Gal 1,82Tim 2,17; 1Tim 6,35; 2Joh 1,10f.)
  3. die Verursachung von Parteiungen und Spaltungen (Tit 3,10);
  4. die Weigerung, für seine engen Familienangehörigen in Not zu sorgen (z.B. 1Tim 5,8);
  5. unversöhnliche Feindseligkeit (z.B. Mt 18,7).1

Diese Art biblische Listen bieten bis zu einem gewissen Punkt eine Hilfestellung. Beachte, dass jede der dort beschriebenen Sünden schwerwiegend ist und eine äußerlich sichtbare Erscheinungsform hat. Es sind nicht nur innerliche Sünden des Herzens; man kann sie mit den Augen sehen und mit den Ohren hören. Und diese äußerlich sichtbare Erscheinungsform vermittelt sowohl der Welt als auch der Herde einen falschen Eindruck vom christlichen Glauben.

Diese Listen haben allerdings ihre Grenzen. Sie berücksichtigen nicht die Vielzahl verschiedenster Sünden, die die Bibel nicht aufführt (Bsp. Abtreibung). Außerdem wird in den Texten zum Thema Gemeindezucht nur eine bestimmte Sünde angeführt, wie z.B. in 1. Korinther 5, wo Gemeindezucht geübt werden soll, weil ein Mann mit der Frau seines Vaters geschlafen hat. Doch Paulus hatte sicherlich nicht im Sinn, dass Gemeinden nur bei dieser bestimmten Sünde Gemeindezucht üben. Was sollen Gemeinden demnach aus solchen Beispielen für andere Sünden ableiten?

Äußerlich, schwerwiegend, keine Bereitschaft zu Umkehr

Erstens können wir die biblischen Vorgaben so zusammenfassen: Formelle Gemeindezucht wird dann erforderlich, wenn es sich um eine äußerliche, schwerwiegende Sünde handelt, von der eine Person nicht bereit ist, umzukehren. Die Sünde muss eine äußerlich sichtbare Erscheinungsform haben. Es muss etwas sein, was sich mit den Augen sehen oder mit den Ohren hören lässt. Gemeinden sollten auf keinen Fall vorschnell vom Gemeindeausschluss reden, wenn sie vermuten, dass jemand innerlich gierig oder stolz ist. Das heißt nicht, dass Sünden des Herzens nicht schwerwiegend sind. Es heißt, dass Gott weiß, dass wir einander nicht ins Herz schauen können und dass echte Probleme im Herzen am Ende ohnehin zu Tage kommen (1Sam 16,7Mt 7,17ff.Mk 7,21).

Zweitens muss die Sünde schwerwiegend sein. Beispielsweise kann es sein, dass ich bemerke, wie ein Bruder eine Geschichte erzählt und dabei die Details aufbauscht. Ich würde ihn danach unter vier Augen darauf ansprechen. Doch selbst, wenn er es nicht zugibt, würde ich ihn deshalb nicht vor die versammelte Gemeinde bitten. Warum nicht? Erstens ist eine Sünde wie das Ausschmücken von Geschichten in viel wichtigeren und ungesehenen Sünden wie Götzendienst und Selbstrechtfertigung verwurzelt. Das sind Dinge, die ich in einem persönlichen Rahmen mit ihm besprechen würde. Zweitens wird es höchstwahrscheinlich eine Atmosphäre des Misstrauens schüren und die Gemeinde in die Gesetzlichkeit treiben, wenn sie jeder noch so kleinen Sünde ihrer Mitglieder nachgeht. Drittens muss in der Gemeinde muss offensichtlich Raum für Liebe sein, die „eine Menge von Sünden zudecken [wird]“ (1Petr 4,8). Nicht jeder Sünde sollte bis zum Letzten nachgegangen werden. Gott sei Dank ist Gott selbst nicht so mit uns umgegangen.

Drittens und letztens ist die formelle Gemeindezucht das angebrachte Vorgehen, wenn ein Gemeindemitglied darauf beharrt, an seiner Sünde festzuhalten, und nicht bereit ist, umzukehren. Die Person ist bereits in vertraulichem Rahmen wegen ihrer Sünde konfrontiert und an Gottes Gebote in der Schrift erinnert worden, weigert sich aber, von der Sünde abzulassen. Allem Anschein nach ist der Person ihre Sünde kostbarer als Jesus. Es kann eine Ausnahme geben, auf die wir unten näher eingehen.

Alle drei Faktoren kamen bei meiner ersten Erfahrung mit korrektiver Gemeindezucht zum Zuge. Der Betreffende war ein guter Freund und mein Laufpartner. Doch die Gemeinde und ich ahnten nichts davon, dass er ein Leben in sexueller Sünde führte, bis er mir eines Tages beim Mittagessen davon erzählte. Ich fragte ihn sofort, ob er wusste, was die Bibel über solchen Verkehr sagte. Doch er sagte, dass er darüber seinen Frieden mit Gott hätte. Ich bat ihn inständig, umzukehren. Später taten es auch andere. Doch er antwortete uns immer dasselbe: „Für Gott ist es in Ordnung“. Nach einigen Monaten solcher Gespräche entzog ihm die Gemeinde die Mitgliedschaft. Er war nicht mehr Teil der Gemeinschaft. Seine Sünde war schwerwiegend und hatte eine deutliche äußerlich sichtbare Erscheinungsform und er war nicht bereit zur Umkehr. Sie zeigte weder der Gemeinde noch der Welt, was es heißt als Christ zu leben. Sie war irreführend. Die Gemeinde war ihm über mehrere Monate nachgegangen. Wir hatten ihn lieb. Wir wollten, dass er von seiner Sünde abkehrte und erkannte, dass Jesus kostbarer ist als alles, was uns diese Welt zu bieten hat. Doch schon sehr bald wurde klar, dass er keinerlei Absicht hatte, sich von seiner Sünde abzukehren. Er war entschieden. Als er sich zwischen seiner Sünde und Gottes Wort entscheiden musste, wählte er die Sünde. Also musste die Gemeinde formell handeln.

Wie sollte eine Gemeinde Gemeindezucht üben?

Wie sollte eine Gemeinde Gemeindezucht üben? Jesus beschreibt die Grundzüge in Mt 18,15–17. Er erklärt seinen Jüngern:

„Wenn aber dein Bruder an dir gesündigt hat, so geh hin und weise ihn zurecht unter vier Augen. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder gewonnen. Hört er aber nicht, so nimm noch einen oder zwei mit dir, damit jede Sache auf der Aussage von zwei oder drei Zeugen beruht. Hört er aber auf diese nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und ein Zöllner.“

Wir sehen: Der Prozess beginnt mit einem Vergehen zwischen zwei Brüder und die Reaktion auf dieses Vergehen soll nur so weit geführt werden, wie nötig ist, um eine Versöhnung zu erreichen. Jesus beschreibt den Prozess in vier Schritten.

Vier grundlegende Schritte

  1. Wenn sich das sündige Problem zwischen den beiden Personen ohne Hilfe von außen klären lässt, dann ist kein weiterer Schritt nötig.
  2. Wenn sich das Problem nicht unter vier Augen klären lässt, dann soll die geschädigte Person zwei oder drei andere hinzuziehen, „damit jede Sache auf der Aussage von zwei oder drei Zeugen beruht“ (Mt 18,16). Jesus greift diesen Gedanken aus 5. Mose 19 auf, wo es darum geht, Menschen vor Falschanklagen zu schützen. Dort wird dazu aufgerufen, dass man eine Sache „genau erforschen“ soll, wenn Zweifel an dem Vergehen besteht (5Mo 19,18). Ich denke, Jesus meint, dass uns als Christen Wahrheit und Gerechtigkeit am Herzen liegen soll, wozu auch gehört, dass wir gründlich prüfen, statt vorschnelle Schlüsse zu ziehen. Die zwei oder drei Zeugen müssen bestätigen können, dass tatsächlich ein schwerwiegendes und äußerlich sichtbares Vergehen vorliegt und dass der Betreffende tatsächlich nicht bereit zur Umkehr ist. Wenn Außenstehende hinzugezogen werden, hofft man, dass entweder der Schuldige zur Besinnung kommt oder die geschädigte Person einsieht, dass die Sache nicht so schwerwiegend ist, wie sie bei ihr angekommen ist. Schritt 2 wie auch Schritt 1 können sich jeweils über mehrere Treffen und Gespräche erstrecken, je nachdem, was in der konkreten Situation angemessen erscheint.
  3. Wenn das Hinzuziehen von zwei oder drei Personen nicht zu einer Klärung führt, dann soll die geschädigte Person damit zur Gemeinde gehen (Mt 18,17a). In meiner Gemeinde würde man sich typischerweise an die Ältesten wenden, weil Gott den Gemeindeältesten die Verantwortung und Vollmacht erteilt hat, über die Angelegenheiten der Gemeinde zu wachen (1Tim 5,17Hebr 13,171Petr 5,2). Die Ältesten machen dann den Namen der Person bekannt, der eine äußerlich sichtbare, schwerwiegende Sünde ohne Bereitschaft zur Umkehr zur Last gelegt wird. Sie beschreiben in aller Kürze, um welche Sünde es sich handelt; die Beschreibung ist so gehalten, dass sie anderen nicht zum Anstoß wird und die Familienangehörigen des Betreffenden nicht unnötig in Verlegenheit bringt. Und typischerweise geben sie der Gemeinde zwei Monate lang die Gelegenheit, dem Sünder nachzugehen und ihn zur Umkehr aufzurufen.
  4. Der letzte Schritt im Prozess der Gemeindezucht, ist der Ausschluss aus der Gemeinschaft und der Entzug der Gemeindemitgliedschaft, was im Wesentlichen den Ausschluss vom Abendmahl bedeutet: „Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und ein Zöllner“ (Mt 18,17b). Er soll wie eine Person behandelt werden, die nicht zu Gottes Bundesvolk gehört und die demnach auch nicht an Christi Bundesmahl teilnehmen sollte (Es ist dennoch gut, ihn einzuladen, weiterhin zu kommen, wenn sich die Gemeinde zum Gottesdienst versammelt; mehr dazu unten). Unsere Gemeinde geht diesen Schritt, wenn der Betreffende nach Ablauf der zwei Monate immer noch in seiner Sünde verharrt. Zwei Monate sind eine willkürliche Zahl, sie dienen uns einfach als grundlegender Zeitplan, der sich mit den ohnehin regelmäßig angesetzten Mitgliederversammlungen überschneidet. Je nach Situation kann es aus Sicht der Gemeinde angemessen sein, diesen Zeitplan zu verlangsamen oder zu beschleunigen.

Gründe, den Prozess zu verlangsamen oder zu beschleunigen

Es kann gute Gründe geben, die Prozesse rund um die Gemeindezucht relativ langsam zu gestalten. Das gilt zum Beispiel, wenn ein Sünder zumindest ein gewisses Interesse zeigt, gegen seine Sünde anzukämpfen. Nicht nur die Art der Sünde, auch das Wesen des Sünders müssen berücksichtigt werden. Um es ganz offen zu sagen: Unterschiedliche Sünder erfordern unterschiedliche Strategien. Wie Paulus schreibt: „Verwarnt die Unordentlichen, tröstet die Kleinmütigen, nehmt euch der Schwachen an, seid langmütig gegen jedermann!“ (1Thess 5,14). Manchmal liegt es nicht sofort auf der Hand, ob eine Person faul ist oder ob ihr ihre Sünde gleichgültig ist oder ob sie wirklich schwach ist.

Ich erinnere mich an einen Bruder, der mit einer bestimmten Sucht zu kämpfen hatte. Eine Zeit lang war ich mir unsicher, ob er sich wegen seiner moralischen Fehltritte herausreden wollte oder ob seine Seele wirklich so von der jahrelangen Sünde geschwächt und deformiert war, dass es ihm tatsächlich so schwerfiel, nicht mehr zu sündigen. Die Antworten auf diese Art von Fragen sollten einen Einfluss darauf haben, wie schnell die Prozesse der Gemeindezucht ablaufen.

Manchmal ist es angebracht, sie zu beschleunigen, was heißen kann, dass man einen oder zwei der Schritte, die Jesus in Mt 18 beschreibt, überspringt. Biblisch gesehen gibt es zwei Gründe, die uns erlauben, die Prozesse zu beschleunigen: 1.) Spaltungen in der Gemeinde und 2.) ein öffentlicher Skandal (d.h. eine Sünde, die Christus im nichtchristlichen Umfeld der Gemeinde in Verruf bringt). Im Blick auf die erste Kategorie sagt Paulus: „Einen Menschen, der Spaltungen anrichtet, weise nach einmaliger oder zweimaliger Verwarnung ab“ (Tit 3,10; MENG). Es ist nicht ganz klar, welcher Prozess Paulus vorschwebt. Doch seine Worte drücken aus, dass die Gemeinde um des Leibes willen rasch und entschieden gegen die Spalter vorgehen soll.

Ein noch schnellerer Prozess wird in 1. Korinther 5 beschrieben, wo Paulus die Gemeinde auffordert, den Mann, der in einen öffentlich bekannten Skandal verwickelt ist, d.h. in ein sündhaftes Verhalten, das sogar die nichtchristliche Gemeinschaft verdammt, sofort aus ihrer Mitte zu entfernen. Paulus fordert die Gemeinde nicht einmal auf, den Mann vorzuwarnen, damit er zur Umkehr kommt. Er trägt ihnen einfach auf, den Betreffenden „dem Satan zu übergeben“ (1Kor 5,5a).

Warum soll die Aufforderung zur Umkehr und das Einräumen einer zweiten Chance übersprungen werden? Es ist nicht so, als wären Paulus Umkehr und zweite Chancen egal. Vielmehr trägt er der Gemeinde auf, den Mann aus ihrer Mitte zu entfernen, „damit der Geist gerettet werde am Tag des Herrn Jesus“ (V. 5b). Sicherlich ist Paulus dafür offen, dass der Mann am Ende wieder Teil der Gemeinde wird, wenn er tatsächlich von seiner Sünde umkehrt (siehe 2Kor 2,5–8). Der springende Punkt ist, dass seine Sünde öffentlich bekannt ist und dass sie eine öffentliche Erklärung über Christus macht. Darum sollte die Gemeinde mit einer gleichermaßen öffentlichen Erklärung vor der Welt reagieren: „Dieses Verhalten ist nicht hinnehmbar! Christen machen das nicht!“

In 1. Korinther 5 fällt allerdings auf, dass keine Frage bestand, ob der Betreffende in Sünde verstrickt war oder nicht. Es war unbestrittene Tatsache. Wenn allerdings in Frage steht, ob eine Sünde tatsächlich stattgefunden hat, selbst wenn die Sünde einen Skandal nach sich ziehen würde, sollte die Gemeinde sich die Zeit für eine gründliche Untersuchung nehmen, wie Jesus in Matthäus 18 anweist. Beispielsweise sollte eine Gemeinde nicht vorschnell Gemeindezucht üben, weil sich Gerüchte herumsprechen, dass ein Mitglied angeblich Gelder veruntreut hat (ein öffentlicher Skandal), nur um dann festzustellen, dass die Klage von den staatlichen Gerichten drei Monate später wegen unzureichender Beweislage abgewiesen wird.

Welche zwei Überlegungen führen dann aber dazu, dass eine Gemeinde die Prozesse rund um die Gemeindezucht beschleunigt? Eine Gemeinde kann Grund haben, schneller vorzugehen, wenn 1.) die Einheit der Gemeinde unmittelbar bedroht ist oder wenn es sich 2.) um eine Sünde handelt, die den Namen Christi im Umfeld der Gemeinde in großen Verruf bringen würde. Es existiert keine exakte Formel, anhand derer wir glasklar sagen können, wann eine dieser Grenzen überschritten wird, und eine Gemeinde ist gut beraten, wenn sie einen Ältestenkreis einsetzt, der gemeinsam Aufsicht über solche schwierigen Fragen übt.

Gottesdienstbesuch und Wiederaufnahme in die Gemeinde

Gemeindemitglieder fragen sich häufig, ob eine Person, die aus der Gemeinde und vom Abendmahl ausgeschlossen wurde, weiterhin zu den wöchentlichen Gottesdiensten kommen darf, und wie sie mit dem Betreffenden im Alltag umgehen sollen. Das Neue Testament thematisiert diese Frage in verschiedenen Texten (1Kor 5,9.112Thess 3,6.14–152Tim 3,5Tit 3,102Joh 1,10) und verschiedene Umstände erfordern eventuell unterschiedliche Reaktionen. Die Ältesten meiner Gemeinde raten folgende zwei Verhaltensweisen an:

  • Mit Ausnahme von Situationen, in denen die Anwesenheit des Betreffenden, der nicht von seiner Sünde umgekehrt ist, eine physische Bedrohung für die Versammelten darstellt, sollte der Betreffende bei den wöchentlichen Gottesdiensten willkommen sein. Es gibt keinen besseren Ort, an dem diese Person sein könnte, als in der Gemeinde, wenn Gottes Wort verkündigt wird.
  • Die Familienmitglieder des Betreffenden sollten zwar weiterhin ihren biblischen familiären Verpflichtungen nachkommen (z.B. Eph 6,1–31Tim 5,81Petr 3,1–2), doch die Grundhaltung der Gemeinde sollte sich im Umgang mit dem Betreffenden deutlich ändern. Der Umgang sollte jetzt nicht von einem lockeren, freundschaftlichen Ton, sondern von bewussten Gesprächen hinsichtlich der Umkehr geprägt sein.

Der Betreffende wird wieder in die Gemeinschaft der Gemeinde aufgenommen, wenn es Anzeichen einer echten Umkehr gibt. Was echte Umkehr bedeutet, hängt von der Art der Sünde ab. Manchmal ist Umkehr schwarz oder weiß zu verstehen, wie bei einem Ehemann, der seine Ehefrau verlassen hat. Für ihn bedeutet Umkehr klar und einfach, dass er zu seiner Frau zurückkehrt. Manchmal bedeutet Umkehr jedoch nicht unbedingt, eine bestimmte Sünde komplett zu überwinden, sondern eine neue Wachsamkeit im Kampf gegen diese Sünde an den Tag zu legen, z.B. im Kampf gegen eine bestimmte Sucht.

Es ist nicht leicht, zu beurteilen, ob eine echte Umkehr geschehen ist. Diese Frage erfordert viel Weisheit. Vorsicht und Erbarmen müssen Hand in Hand gehen. Manchmal braucht es Zeit, damit die Umkehr an ihren Früchten zu erkennbar wird, doch nicht zu viel Zeit (siehe 2Kor 2,5–8). Wenn eine Gemeinde sich entscheidet, den Betreffenden, der von seiner Sünde umgekehrt ist, wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen und zum Abendmahl zuzulassen, dann darf keine Rede von einer Probezeit sein und der Betreffende darf auch nicht als Mensch zweiter Klasse behandelt werden. Stattdessen sollte die Gemeinde öffentlich erklären, dass dem Betreffenden seine Schuld vergeben ist (Joh 20,23), ihm die Liebe der Gemeinde bekräftigen (2Kor 2,8) und seine Rückkehr feiern (Lk 15,24).

Warum sollte eine Gemeinde Gemeindezucht üben?

Wenn eine Gemeinde anfängt, Gemeindezucht zu praktizieren, sieht sie sich häufig Situationen aus dem echten Leben gegenüber, die sehr komplex sind und für die ihnen keine „Fallstudie“ aus der Bibel zur Verfügung steht, um die zahlreichen vorliegenden Faktoren und Umstände einzuordnen. Es ist nicht in jedem Fall klar, ob formelle Gemeindezucht erforderlich ist oder wie lang die Prozesse andauern sollten oder ob die schuldige Person wirklich umgekehrt ist oder nicht usw.

Beim Durcharbeiten dieser komplexen Fragen müssen sich die Gemeinde und ihre Leiter vor Augen halten, dass die Gemeinde zuallererst dazu berufen ist, über den Namen und die Ehre Christi zu wachen. Letztlich geht es bei Gemeindezucht um den Ruf Christi und die Frage, ob die Gemeinde weiterhin das Zungenbekenntnis einer Person bekräftigen kann, deren Leben Christus zutiefst falsch abbildet. Die konkreten Sünden und ihre Umstände können enorm verschieden ausfallen, doch eine Frage muss in unseren Gemeinden im Vordergrund stehen: „Wie kann die Sünde dieses Sünders und unsere Reaktion darauf Christi heilige Liebe widerspiegeln?“

Wenn uns der Ruf Christi wichtig ist, bedeutet das schließlich nichts anderes, als dass uns das Wohl von Nichtchristen am Herzen liegt. Wenn Gemeinden keine Gemeindezucht üben, werden sie über lang oder kurz aussehen wie die Welt. Sie sind wie Salz, das seine Würze verloren hat, das nur noch dafür taugt, zertreten zu werden (Mt 5,13). Sie sind überhaupt kein Zeugnis für eine Welt, die in Dunkelheit verloren ist.

Wenn uns der Ruf Christi wichtig ist, bedeutet das außerdem nichts anderes, als dass uns das Wohl der übrigen Gemeindemitglieder am Herzen liegt. Als Christen sollten wir Jesus ähnlich sein und die Gemeindezucht hilft uns, dieses heilige Bild rein zu halten. Ein formeller Akt der Gemeindezucht erinnert uns als Gemeindemitglieder daran, in unserem eigenen Leben Vorsicht walten zu lassen. Der Kongregationalist James fasst es gut zusammen:

„Die Vorteile der Gemeindezucht liegen auf der Hand. Sie führt Abtrünnige zurück, deckt Heuchler auf, verbreitet eine heilbringende Ehrfurcht in der Gemeinde, bietet neue Anreize für Wachsamkeit und Gebet, beweist zweifelsfreie die Tatsache und die Folgen menschlicher Schwäche und ist ferner ein öffentliches Zeugnis gegen die Ungerechtigkeit.“2

Wenn uns der Ruf Christi wichtig ist, bedeutet das schlussendlich nichts anderes, als dass uns der Mensch, der sich in seiner Sünde verstrickt hat, am Herzen liegt. In 1 Kor 5 wusste Paulus, dass es das liebevollste Vorgehen war, den Mann aus der Gemeinde auszuschließen, „damit der Geist gerettet werde am Tag des Herrn Jesus“ (1Kor 5,5).

Warum sollte eine Gemeinde Gemeindezucht üben? Zum Wohl des Einzelnen, zum Wohl der Nichtchristen, zum Wohl der Gemeinde und zur Ehre Christi.3 Diese grundlegenden Prinzipien helfen Gemeinden und Ältesten im Umgang mit den verschiedenen komplizierten Situationen, die sie erleben, in dem Wissen, dass Gottes Weisheit und Liebe ewigen Bestand haben, auch wenn wir an unsere Grenzen kommen.


  1. John Angell James, Church Fellowship or The Church Member’s Guide, Auszug aus Band XI der 10. Ausgabe von Works of John Angell James, S. 53. 
  2. Ebd., S. 53.
  3. Siehe Mark Dever, 9 Merkmale einer gesunden Gemeinde, 3L 2009. 

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Jonathan Leeman, Gemeindezucht. Wie die Gemeinde den Namen Jesu ehrt und bewahrt, Augustdorf: Betanien, 2017, 144 Seiten, 7,90 Euro.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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