Mitgliedschaft & Gemeindezucht

Gemeindezucht

Von Jonathan Leeman

Jonathan Leeman ist der Redaktionsleiter von 9Marks. Er ist Herausgeber der 9Marks Buchreihe sowie des 9Marks Journal. Jonathan lebt mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in einem Vorort von Washington DC (USA) und ist Ältester der Cheverly Baptist Church.
Artikel
01.06.2023

Wie gehen wir mit Sünde in der Gemeinde um?

Gemeindezucht sollte größtenteils im Rahmen der ganz normalen Beziehungen zwischen Gemeindemitgliedern stattfinden. Damit ist nicht gemeint, dass jeder in der Gemeinde alle anderen ständig korrigieren soll. Das klingt furchtbar. Es bedeutet vielmehr, dass wir eine Gemeinde sein möchten, in der die Menschen danach hungern, Gott zu gefallen. Es sollte normal sein, dass Gläubige um Korrektur bitten, weil sie wachsen wollen, anstatt sich davor zu verstecken:

„Hey Daniel, kannst du mir bitte eine Rückmeldung dazu geben, wie ich den Hauskreis geleitet habe? Was hätte ich besser machen können?“

„Joachim, ich möchte, dass du weißt, dass du mir jederzeit sagen kannst, wie du meine Ehe und meine Liebe zu meiner Frau wahrnimmst. Und, meine sündige Natur möchte das eigentlich nicht fragen, aber … möchtest du mir irgendwas darüber sagen, wie ich meine Kinder liebe und erziehe?“

Manchmal wird zwischen formativer und korrigierender Gemeindezucht unterschieden. Formative Zucht meint das Lehren. Korrigierende Zucht bedeutet, Fehler zu korrigieren. Die beiden gehen jedoch Hand in Hand. Es ist schwer, eines ohne das andere zu haben. Überdies sollte (formende und korrigierende) Zucht im Leben einer Gemeinde nicht nur den Sonntag, sondern auch die anderen Wochentage prägen. Zucht, so könnte man sagen, ist nur eine andere Art, den Prozess der Nachfolge zu beschreiben. Wann sollte Jüngerschaft und Gemeindezucht stattfinden? Die ganze Woche; immer.

Die schwierigere Frage

Hier ist die schwierigere Frage: Wann geht man im Prozess der Gemeindezucht den nächsten Schritt – von einer Person zu zwei oder drei bzw. von zwei oder drei zur ganzen Gemeinde? Dazu gibt es keine einfache Formel. Jeder Fall muss individuell beurteilt werden. Es gab Situationen, in denen unsere Ältesten es nicht für nötig hielten, lange damit zu warten. Dann gab es andere Situationen, in denen wir uns über Monate oder sogar Jahre hinweg bemühten, ohne uns jemals zu entscheiden, mit dem betreffenden Problem den nächsten Schritt der Gemeindezucht zu gehen.

Das ist vor allem dann der Fall, wenn die Betroffenen mit uns zusammenarbeiten, um ihre Sünde zu bekämpfen. Unsere Ältesten waren einmal vier oder fünf Jahre lang mit einem Ehepaar im Gespräch. Das war lange genug, dass die Amtszeit der begleitenden Ältesten inzwischen abgelaufen war und neue Älteste dazukamen, die in die Situation eingewiesen werden mussten. Dieser Wechsel fand während der Begleitung dieses Paares sogar mehrmals statt. Keiner der beiden musste jedoch jemals aus der Gemeinde ausgeschlossen werden.

Die etwas einfachere Frage

Die folgende Frage ist – zumindest theoretisch – etwas einfacher zu beantworten: Welche Sünden rechtfertigen es, öffentlich gemacht zu werden oder jemanden aus der Gemeinde auszuschließen? Um diese Frage zu beantworten, verweist die ältere Generation christlicher Autoren oft auf Listen von Sünden aus der Schrift, wie zum Beispiel jene in 1. Korinther 5 und 6:

„Jetzt aber habe ich euch geschrieben, dass ihr keinen Umgang haben sollt mit jemand, der sich Bruder nennen lässt und dabei ein Unzüchtiger oder Habsüchtiger oder Götzendiener oder Lästerer oder Trunkenbold oder Räuber ist.“ (1Kor 5,11)

Wenn wir uns jedoch nur an diese Listen halten, heißt das, dass wir die Habgierigen exkommunizieren sollten, aber nicht die Betrüger? Die Schwindler, aber nicht die Mörder oder Pädophilen? Betrüger, Mörder und Pädophile werden in solchen Listen nie erwähnt.

Ich glaube nicht, dass wir diese Listen als vollständig betrachten sollten. Paulus beschreibt hier die Art von Sünden, von denen wir erwarten sollten, dass sie Menschen charakterisieren, die ungläubig und unbußfertig bleiben (vgl. 1Kor 6,9–10).

Ich denke also, die kurze Antwort auf die obige Frage ist, dass nur solche Sünden, die äußerlich, bedeutsam und unbußfertig sind, eine öffentliche Aufdeckung und Exkommunikation rechtfertigen – und die Sünde muss alle drei Merkmale aufweisen, nicht nur eines oder zwei davon.

1. Die Sünde muss äußerlich sein.

Erstens muss es eine Art von Sünde sein, die man mit den Augen sehen oder mit den Ohren hören kann. Sie kann nicht etwas sein, von dem man vermutet, dass es im Herzen eines Menschen verborgen ist. Paulus führt in der obigen Liste Habgier auf, aber man beschuldigt niemanden, habgierig zu sein, und exkommuniziert ihn dann, wenn man keine äußeren Beweise für die Habgier hat. Das säkulare Gerichtssystem wägt die Beweise sorgfältig ab. Sollte die Gemeinde weniger vorsichtig sein? Jesus ist nicht an einer Lynchjustiz interessiert. Beachte aber, dass ich „äußerlich“ und nicht „öffentlich“ sagte. Unzucht ist etwa nicht öffentlich, sondern privat. Darum verwende ich das Wort „äußerlich“.

2. Die Sünde muss bedeutsam sein.

Angst, Furcht und Stress können Sünden sein. Ich glaube aber nicht, dass sie vor die Gemeinde gebracht werden und zum Ausschluss führen sollten. Wenn ich zum Beispiel einen Bruder darauf aufmerksam mache, dass er eine Erzählung verschönert oder übertreibt und er leugnet es, dann könnte er sündigen. Ich werde das jedoch nicht öffentlich machen. Petrus sagt uns: „Die Liebe wird eine Menge von Sünden zudecken“ (1Petr 4,8). Sicherlich ist eines der Hauptmerkmale einer gesunden Gemeinde die Bereitschaft, über viele – ja sogar die meisten – Sünden, die unsere Geschwister an uns begehen, hinwegzusehen.

Was gilt also als bedeutsame Sünde? Es ist die Sünde, die es schwierig macht weiterhin zu glauben, dass jemand den Geist Gottes in sich trägt und ein Christ ist – zumindest wenn er oder sie sich weigert, Buße zu tun. Denke daran, was Gemeindemitgliedschaft bedeutet: die Bestätigung des Glaubensbekenntnisses einer Person durch die Gemeinde. Eine schwerwiegende Sünde ist eine Sünde, die es schwierig – wenn nicht gar unmöglich – macht, das Bekenntnis einer Person zu Jesus weiterhin als glaubwürdig zu bezeichnen. Ich kann mit gutem Gewissen den Glauben von jemandem bekräftigen, der leugnet, dass er eine Geschichte übertrieben hat. Ich kann dies jedoch nicht mit gutem Gewissen für jemanden tun, der in sexueller Unmoral, Beschimpfungen, Trunkenheit usw. verharrt.

Sind die Kriterien für „bedeutsam“ nicht etwas subjektiv? Das sind sie – und deshalb kann dieselbe Sünde in einer Situation einen Ausschluss rechtfertigen, während sie in einer anderen Situation aufgrund einer Vielzahl von Umständen vielleicht nicht dazu führt. Es wäre für die Heilige Schrift ein Kinderspiel, uns ein präzises Fallrecht für jede erdenkliche Situation zu geben. Der Herr möchte hingegen, dass wir ihn um Weisheit bitten und im Glauben wandeln. Dies ist ein weiterer Grund, warum Gemeinden danach streben sollten, so viele Älteste wie möglich aufzustellen: Sie wollen nicht, dass nur ein oder zwei Männer diese schwierigen Angelegenheiten abwägen müssen, bevor sie sie der Gemeinde vorlegen.

3. Die Sünde muss unbußfertig sein.

Nehmen wir an, die Person ist mit ihrer Sünde konfrontiert worden. Ob sie nun zugibt, dass es Sünde ist oder nicht, und ob sie sagt, dass sie damit aufhören will oder nicht: Der Bruder oder die Schwester lässt nicht von der Sünde ab, sondern kehrt immer wieder zu ihr zurück. Die Person kann (oder will) sich nicht von ihr trennen, wie ein Narr von seiner Torheit. Das ist mit „unbußfertig“ gemeint.

Wie sollen wir Sünde ansprechen?

Es gab Zeiten, in denen Jesus im Zorn die Tische umwarf. Es gab Zeiten, in denen die Apostel öffentlich mit scharfer Zunge über bestimmten Personen sprachen (z.B. Petrus und Simon über den Magier in Apg 8 oder Paulus in 1Kor 5). Es mag auch seltene Gelegenheiten geben, bei denen die Korrektur eines Mitbruders eine 9 oder 10 auf der Härteskala sein muss.

In den allermeisten Fällen sollte die Art und Weise eurer Konfrontation oder Befragung jedoch diese Merkmale aufweisen:

  • Diskret Der Verlauf von Matthäus 18 legt nahe, dass wir die Personenkreise so klein wie möglich halten sollten.
  • Sanft Paulus sagt uns, dass wir Menschen „im Geist der Sanftmut“ wiederherstellen sollen (Gal 6,1).
  • Wachsam Im selben Vers fügt er hinzu: „und gib dabei acht auf dich selbst, dass du nicht auch versucht wirst!“ Judas stimmt dem zu: „Habt Erbarmen mit anderen, aber mit Furcht, und hasst auch das Kleid, das vom Fleisch beschmutzt ist“ (Jud 23). Sünde ist heimtückisch. Es ist leicht, sich selbst darin zu verfangen – selbst wenn man versucht anderen zu helfen.
  • Barmherzig Judas sagt es zweimal: „erbarmt euch“ und „rettet“ (Jud 22–23). Dein Ton sollte barmherzig und verständnisvoll sein – nicht selbstgerecht, als ob du niemals auf die gleiche Weise stolpern würdest.
  • Unparteiisch Wir sollten nicht vorverurteilen, sondern uns bemühen, beide Seiten der Geschichte zu hören (vgl. 1Tim 5,21).
  • Klar Passiv-aggressive oder sarkastische Konfrontationen sind mit Sicherheit nicht angebracht, weil sie nur dazu dienen, die eigene Person zu schützen. Stattdessen solltest du bereit sein, dich angreifbar zu machen, indem du sehr deutlich bist. Vor allem, wenn du die Person, die gesündigt hat, aufforderst sich angreifbar zu machen, indem sie ihre Sünde bekennt. Manchmal kann Zurückhaltung weise sein und dazu beitragen, dass eine Person von sich aus zu einem Bekenntnis kommt. Dies darf jedoch nicht auf Kosten der Klarheit im Benennen der Sünde gehen. Je größer die Kreise werden, desto präziser musst du vorgehen, denn schließlich durchsäuert ein wenig Sauerteig den ganzen Teig (vgl. 1Kor 5,6). Darum müssen Menschen gewarnt werden.
  • Entschlossen Wenn es um den letzten Schritt der Gemeindezucht geht – den Gemeindeausschluss bzw. die Exkommunikation –, muss die ganze Gemeinde mit Entschlossenheit handeln: „Darum fegt den alten Sauerteig aus, damit ihr ein neuer Teig seid“ (1Kor 5,7); „Einen sektiererischen Menschen weise nach ein- und zweimaliger Zurechtweisung ab“ (Tit 3,10). Es muss klar sein, dass die betreffende Person nicht länger Mitglied der Gemeinde oder am Tisch des Herrn willkommen ist.

In Fragen der Korrektur ist immer Weisheit gefragt, denn keine Situation ist wie die andere. Es ist leicht zu sagen: „Nun, bei dieser Person haben wir das so gemacht.“ Obwohl man viel aus Präzedenzfällen lernen kann, müssen wir uns letztendlich auf die Grundsätze von Gottes Wort, die Führung seines Geistes und eine sorgfältige Prüfung der Besonderheiten und Eigenheiten jeder Situation verlassen.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

weitere verlinkt als articles