Predigen & Theologie

Hesekiels Botschaft für unsere Zeit

Von Michael Lawrence

Michael Lawrence ist Hauptpastor der Hinson Baptist Church in Portland, Oregon. Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Artikel
01.05.2022

Kürzlich hörte ich, wie eine ältere Frau aus unserer Gemeinde bemerkte, sie habe nie auch nur eine einzige Predigt über einen der alttestamentlichen Propheten gehört, bevor ich vor fast neun Jahren zum Pastor der Gemeinde wurde. Dabei war sie seit über 40 Jahren Mitglied!

Das hat mich nicht überrascht. Die Propheten gehören nicht unbedingt zu den „Wohlfühl-Büchern“, und sie enthalten auch nicht diese praktischen, direkt verwendbaren Anweisungen, die wir in den Briefen und in den Weisheitsbüchern finden. Und wenn du einfach nur eine gute Story suchst, sind sie, offen gesagt, ziemlich verwirrend.

Auf keinen Propheten trifft das mehr zu als auf Hesekiel. Warum also solltest du über das Buch Hesekiel predigen, wenn du nicht gerade zu den Leuten gehörst, die auf mystische Prophezeiungen und Endzeit-Spekulationen stehen? Hier sind drei Gründe:

1. Hesekiel hilft uns, unsere Sünde klarer zu erkennen

Das ist der erste Grund, Hesekiel zu predigen: Es wird deinen Zuhörern helfen, ihre Sünde klarer zu erkennen. Der Prophet Hesekiel war als Wächter beauftragt, um die erste Welle der Vertriebenen in Babylon zu warnen (Hes 3,17). Das Problem war, dass das Volk seine Warnungen nicht hören wollte (2,4-7), vor allem, weil sie sich selbst und ihre Beziehung zu Gott nicht richtig einschätzten.

Hesekiel hält Israel wiederholt einen Spiegel vor, damit sie ihren Götzendienst (z.B. Kap. 8,14,16), ihren Stolz (z.B. Kap. 19), ihre falschen Hoffnungen (z.B. Kap. 17), ihre Selbstgerechtigkeit (z.B. Kap. 18) und ihre Treulosigkeit (z.B. Kap. 23) erkennen. Er lässt nicht zu, dass sie wegsehen oder ihre Sünden herunterspielen oder sich in fadenscheinige Ausreden flüchten. In unverblümter und oft schockierender Sprache hilft er Israel, der schmerzlichen Wahrheit über ihren Zustand vor dem Herrn ins Auge zu sehen. Und da sie nicht hören wollen und es ablehnen, in diesen Spiegel des Wortes Gottes zu schauen, lässt Gott Hesekiel die Botschaft als manchmal komisches und oft schmerzhaftes „Straßenschauspiel“ aufführen.

Niemand von uns schaut gerne in den Spiegel und gibt zu, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Wir würden es vorziehen, Botschaften darüber zu predigen (und zu hören), wie sehr Gott uns liebt und was für großartige Pläne er mit uns hat (was ja auch stimmt). Wir wollen in Gottes Wort nach Weisheit für unsere Lebenspraxis und nach solider Hilfe für die Herausforderungen des Lebens graben (und auch das finden wir dort). Aber wenn wir nie erkennen, was mit uns nicht stimmt, ergreifen wir auch keine Maßnahmen, um es zu beheben. Und das ist eines der Ziele Hesekiels – uns die wahre Natur unseres Problems zu zeigen, damit wir Buße tun und uns zu Gott wenden, um die notwendige Vergebung und Gnade zu empfangen (18,30-32).

2. Hesekiel hilft uns, Gottes Plan zu sehen

Hesekiel weissagte in den Jahrzehnten vor und nach dem Fall Jerusalems und der Zerstörung des Tempels. Dieses verheerende Ereignis markiert das Zentrum seiner Prophetie und den Wendepunkt des Buches. Nachdem die Stadt überrannt und der Tempel zerstört war, fragte sich Gottes Volk, was das Handeln Gottes bedeutete und ob seine Verheißungen hinfällig und ihre Zukunft verloren war.

Hesekiel macht deutlich, dass Gott die Völker richten wird wie er Israel gerichtet hat (Kap. 25-32). Gottes Gerechtigkeit kennt keine Parteilichkeit. Aber nachdem Gott seinen Sohn Israel gerichtet hatte, würde er auch seine Treue beweisen, indem er diesen Sohn wieder zum Leben erweckte. In einem machtvollen Akt der Neuschöpfung würde Gott Israel wiederherstellen (Kap. 37). Um seiner eigenen Ehre willen würde er einen neuen Bund mit seinem Volk schließen, der nicht gebrochen werden konnte. Er würde seinen eigenen Geist in sie legen (Kapitel 36). In Frieden und Sicherheit würden sie unter ihrem David als ihrem Hirten leben, und Gott selbst würde ihr Hirte sein (Kapitel 34). Diese Wiederherstellung würde ihren Höhepunkt in einem idealen Tempel (Kap. 40-46) und dem verheißenen Land der neuen Schöpfung finden, das Gott nie mehr verlassen würde (43,7).

Vielleicht gibt es Menschen in deiner Gemeinde, die sich fragen, ob Gott einen Plan hat. Predigten über die Visionen Hesekiels sollten ihnen sowohl Hoffnung als auch Gewissheit geben. Ja, einige dieser Visionen sind sicherlich in den Details verwirrend, aber ihre Hauptaussage ist klar. Christen sind manchmal verschiedener Ansicht bezüglich der Zeit und dem Ort ihrer Erfüllung, aber dass sie sich erfüllen, ist gewiss. Die fehlenden Einzelheiten sind manchmal frustrierend, aber gerade dieses Fehlen macht uns auch deutlich, dass Gott uns keine Blaupause gibt, die wir dann durch unsere Politik, Diplomatie oder menschliche Anstrengungen umsetzen müssten. Vielmehr versichert er uns, dass er selbst ganz sicher ausführen wird, was wir weder verdient haben, noch selbst bewerkstelligen können. Er wird das durch die Kraft des Geistes und das Errichten des neuen Bundes bewerkstelligen, der im vollbrachten Werk Jesu Christi am Kreuz erfüllt wurde.

In den Herausforderungen und Nöten des Lebens kann man leicht die Perspektive verlieren. Schnell können Diskussionen über Details und zeitliche Abfolgen der letzten Tage uns ganz in Beschlag nehmen, so dass wir den Fokus verlieren. Hesekiel bringt uns dazu, die Augen aufzuheben und neu auf die Zentralität und die Gewissheit des Evangeliums zu richten, auf Gottes frei geschenktes Rettungswerk. Ungeachtet dessen, was wir in der Welt um uns herum oder auch in unserem eigenen Leben sehen, hat Gottes Plan sich am Kreuz Jesu Christi erfüllt. Diese Erfüllung zeigt sich jetzt im Leben der Gemeinde und wird in einem neuen Jerusalem die endgültige Vollendung erfahren. Dort wird es keinen Tempel mehr geben, „denn der Herr, Gott der Allmächtige, ist ihr Tempel, und das Lamm“ (Offb 21,22).

3. Hesekiel hilft uns, Hoffnung im Leiden zu finden

Eine der brennenden Fragen Hesekiels lautet: „Wo ist Gott?“ Zu Beginn des Buches befindet sich Gottes Volk im Exil und dann erscheint Gott unerwartet (Hes 1). Aber was macht er in Babylon? Warum ist er nicht in Jerusalem im Tempel? In dramatischen, bewegenden Bildern wird Hesekiel gezeigt, dass die Sünden Israels (Kap. 8-10) Gott aus dem Tempel vertrieben haben und er ihn aufgegeben hat. Das Exil ist unvermeidbar, weil Gottes Gericht nicht mehr abgewendet werden kann (Kap. 12). Diese Frage wird in der ersten Hälfte des Buches bewegt und die Antwort ist scheinbar offensichtlich: „Der HERR hat das Land verlassen!“ und „Der HERR sieht es nicht!“ (9,9)

Und doch macht Gott schon ziemlich am Anfang des Buches deutlich, dass sein Volk unter Leiden und Gericht das Herz Gottes missverstanden hat. Gott erklärt: „Ich habe sie wohl in die Ferne unter die Heidenvölker gebracht und in die Länder zerstreut; aber ich bin ihnen doch für eine kurze Zeit zum Heiligtum geworden in den Ländern, in die sie gekommen sind“ (11,16). Seine Ankunft in Babylon markiert nicht nur sein Gericht über Jerusalem, sondern kündigt auch sein triumphales Gericht über die Feinde Israels an (Kap. 38-39).

Sein Ziel ist es, seinen Geist in sein Volk zu legen (36,27) und sie unter einem König nach der Art Davids wiederherzustellen (37,24-28). Das Buch endet mit einem letzten Blick auf die wiederhergestellte Stadt, die nie Jerusalem genannt wird, sondern „Der Herr ist hier“ (48,35)

Hesekiel bietet uns die Gelegenheit, unsere Gemeinde daran zu erinnern, dass Gott da ist, wo er immer ist: bei seinem Volk. Er ist mitten im Gericht bei ihnen, weil dieses Gericht am Kreuz vollzogen wurde, als der Sohn die Sünde der Söhne trug. Er ist bei ihnen in dem neuen Leben des neuen Bundes, weil er seinen eigenen Geist in sie gelegt hat. Jesus hat die Verheißung von Hesekiel 36—37 erfüllt. Nachdem er zum Vater auffuhr, hat er uns den Geist gesandt (Joh 14,16;26), und auch jetzt macht er uns durch die Kraft des Geistes lebendig (Joh 3,5—8). Und auf ewig wird Gott mit ihnen sein im neuen Jerusalem, dieser Stadt, die das Volk Gottes ist und die keines Tempels mehr bedarf, weil Gott selbst in ihrer Mitte wohnen wird (Offb 21).

Deine Leute wollen wissen, wo Gott ist, wenn ihre Welt zerbricht, Gottes Verheißungen unerreichbar fern zu sein scheinen, wenn es aussieht, als hätte der Feind die Oberhand, und es sich anfühlt, als ob Gott das alles weder sieht noch interessiert.

Hesekiel kannte die schmerzliche Realität dieser Fragen aus eigener bitterer Erfahrung. Aber wir predigen Hesekiel nicht deswegen, weil er unseren Fragen eine Stimme gibt. Wir predigen Hesekiel, weil er Gottes Antworten eine Stimme gibt. Nicht in unseren Umständen, unseren Gefühlen oder unseren Anstrengungen finden wir Hoffnung, sondern in der Zuversicht, dass Gott bei seinem Volk ist. Denn was Hesekiel prophezeite, hat Jesus Christus erfüllt: „Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Weltzeit!“ (Mt 28,20)

Aus diesen Gründen solltest du Hesekiel predigen.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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