Mitgliedschaft & Gemeindezucht

Dazugehören bevor man glaubt?

Von Michael Lawrence

Michael Lawrence ist Hauptpastor der Hinson Baptist Church in Portland, Oregon. Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Übersetzung und Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Artikel
03.02.2021

Eine der größten Einsichten der modernen Welt ist, dass John Donne mit seinem Gedicht „Kein Mensch ist eine Insel“ recht hat und das musikalische Duo Simon & Garfunkel hingegen mit „Ich bin ein Fels, ich bin eine Insel“ falsch liegt, denn: Ich bin kein Fels und ich bin keine Insel.

Angefangen von dem, wer ich glaube zu sein, bis hin zu dem, was ich über das Leben und das Universum denke, sind meine Überzeugungen sozial konstruiert. Das bedeutet nicht, dass ich keine unabhängigen Entscheidungen treffe. Es meint einfach nur, dass der soziale Kontext, in dem ich mich bewege, zum großen Teil die mir zur Verfügung stehenden Entscheidungsoptionen festlegt.

Darüber hinaus belohnt unsere gegenwärtige Kultur manche Entscheidungen mit Zustimmung oder aber straft sie mit Missbilligung. Manchmal ist diese Belohnung finanzieller Art. Allerdings, weitaus wirksamer als eine materielle Belohnung, ist die soziale, intellektuelle und emotionale Belohnung als normales, gesundes und angepasstes Mitglied der Gesellschaft zu gelten. Als soziale Wesen wollen wir zur Gruppe dazugehören.

Das bedeutet, dass es Ideen gibt, die plausibler oder attraktiver erscheinen als andere, unabhängig von ihrem objektiven Wert. Es ist einfach schwer etwas zu glauben von dem jeder in unserem Bekanntenkreis denkt, dass es verrückt sei. Umgekehrt ist es ziemlich leicht etwas zu glauben, vom dem jeder in unserem Bekanntenkreis glaubt, dass es ganz offensichtlich wahr sei. Wir sind keine Flussinseln, sondern ein Fischschwarm, deswegen schwimmen wir mit dem Strom.

Die Gemeinde sagt: „Es ist nicht so verrückt wie du dachtest!“

Was passiert, wenn du diese einfachen Ideen auf die Gemeinde und ihren Auftrag zur Evangelisation anwendest? Plötzlich merkst du, dass die Gemeinde mehr ist als ein Veranstaltungsort für Predigten oder evangelistische Programme. Und du begreifst, dass der Auftrag der Evangelisation nicht mehr nur den Vollzeitlern vorbehalten ist.

Stattdessen wird die ganze Gemeinde zu einem entscheidenden Faktor im Auftrag, das Evangelium weiterzugeben. Die Gemeinschaft wird zu einer plausiblen Alternative zum Unglauben. Sie wird zu einer Subkultur welche vorlebt, was es heißt, Jesus zu lieben und ihm nachzufolgen und dabei Liebe zu einander zu zeigen und einander zu dienen. Und all das geschieht, indem der Leib der Gemeinde das Leben miteinander teilt. Von öffentlichen Gottesdiensten bis zu Hauskreisgruppen, von informellen Treffen, bei denen man auch zusammen isst, bis hin zu rein sozialen Aktionen und Veranstaltungen, das gemeinsame Leben stärkt so nicht nur den gemeinsamen Glauben, es redet auch zu einer zuschauenden nichtchristlichen Welt: „Es ist nicht so verrückt wie du gedacht hast – und wenn du den Sprung vom Unglauben zum Glauben wagst, bist du nicht allein!“ 

Mit anderen Worten: Die Gemeinde wird zu einer Plausibilitätsstruktur [1] für den Glauben. Soweit nachvollziehbar?

Einen Schritt weitergedacht: Dazugehören bevor man glaubt

In den letzten Jahrzehnten jedoch sind viele Gemeinden mit dieser Einsicht noch einen Schritt weitergegangen. Wenn es Menschen hilft, um vom Unglauben zum Glauben zu kommen, eine plausible Alternative von außen zu sehen, wäre es dann nicht noch besser, wenn sie diese von innen sehen? Wenn wir das Evangelium Nichtchristen bringen wollen – was könnte wirksamer sein als sie in unsere Gemeinschaft einzuladen und sie daran teilhaben zu lassen, damit sie es erst ausprobieren, bevor sie sich entscheiden. Wenn die Gemeinschaft unser wirksamstes Werkzeug ist, dann lass uns die Menschen in diese hinein holen, nicht als außenstehende Beobachter, sondern als (vielleicht noch zaghafte) Insider, die an unserem gemeinsamen Leben Anteil haben.

Was ist das Ergebnis? „Ungläubige“ werden zu „Suchenden“ anstatt zu Nichtchristen. Sie werden zu unseren Weggefährten – sie befinden sich gerade nur an einer anderen Stelle desselben Weges.

Praktisch bedeutet es, dass Ungläubige überall eingebunden werden, von der Lobpreisband über die Nachmittagsbetreuung für Schulkinder bis hin zum Begleiten und Koordinieren von Seniorenausflügen. Jeder ist eingebunden, jeder gehört dazu, unabhängig vom Glauben.

Die Idee dahinter ist, dass, bevor sie es verstanden haben, sie sich nicht nur dazugehörig fühlen, sondern bereits den Glauben teilen, der für sie nun plausibel erscheint, weil sie dazugehören.

Warum sollte man Nichtchristen nicht dazu gehören lassen bevor sie glauben? Drei Gründe:

Es ist eine attraktive Idee. Es ist eine scheinbar wirksame Idee. Aber es ist auch eine schlechte Idee. Im folgenden drei Gründe, warum.

1. Es verwirrt Christen.

Erstens, es verwirrt Christen. Ich bin Pastor einer Gemeinde, in der genau das über Jahre auf informelle Weise praktiziert wurde. Das Ergebnis ist eine Ansammlung von Insidern (einige davon sind formal Mitglieder, andere wiederum nicht), die alle behaupten Christen zu sein. Das Problem ist, dass einige von ihnen eifrig und hingegeben sind, wohingegen einige mehr Interesse daran haben, unterhalten zu werden, während wiederum andere es überhaupt nicht für nötig halten, sich in der Gemeinde einzubringen. Doch weil sie alle zur Gemeindefamilie dazugehören, sind sie alle – zumindest nominell – Nachfolger Jesu. Folglich müssen wir uns dann um andere Erklärungsmodelle bemühen, um die Unterschiede zwischen diesen Gruppen zu erklären: „Er hat so viel zu tun“, „Musik ist einfach nicht ihr Ding“, „Ihre Freunde sind nicht mehr da“. Und plötzlich brauchen wir neue Kategorien wie „hingegebene Christen“, „ernsthafte Christen“ oder „opferbereite Christen“ um diese dann von den „08/15-Christen“ und den „Mehr-oder-weniger-Christen“ zu unterscheiden.

Sicherlich sollten wir ein Spektrum von unterschiedlicher Reife in der Gemeinde erwarten und nicht vergessen, dass auch Christen sündigen. Doch was bedeutet es in diesem Kontext, Christ zu sein? Und was machen wir mit unangenehmen Aussagen Jesu, wie „Denn wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter“ (Matthäus 12,50) oder „Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, der ist meiner nicht wert“ (Matthäus 10,38)? Jesus sprach davon, dass ihm nachzufolgen ein radikaler Bruch mit unserem vorherigen Lebensstil ist. Aber wenn wir anfangen mit Absicht die Trennlinie zu verwischen, dann verwirren wir Christen darüber, was es überhaupt bedeutet, ein Nachfolger Jesu zu sein.

2. Es verwirrt Nichtchristen.

Kurz nachdem ich meine Tätigkeit als Pastor in meiner Gemeinde aufnahm, wurden wir von einem anonymen Anrufer darüber informiert, dass einer unserer Leiter „in Sünde lebt“ – im ursprünglichen Sinne dieser Redewendung. Als wir der Sache nachgingen, stellte sich heraus, dass dies stimmte.

In gewisser Weise war das aber nicht einmal das Hauptproblem. Noch einmal: Christen fallen in Sünde – auch in sehr schwerwiegende.

Doch das eigentliche Problem – von einem pastoralen Standpunkt aus betrachtet – entstand erst, als die Person mit ihrer Sünde konfrontiert wurde. Die Antwort war frappierend: „Darauf habe ich mich nicht eingelassen! Wenn ich das vorher gewusst hätte, wäre ich erst gar nicht Gemeindemitglied geworden.“ (Ironischerweise ist es möglich, eine Gemeindekultur zu prägen, in der man dazugehören kann, bevor man glaubt, wo es aber trotzdem noch eine formale Mitgliedschaft gibt. Dies war bei uns der Fall.)

Offensichtlich hatte für diese Person Christsein nichts damit zu tun, Jesus zu gehorchen. Und ihr Verständnis vom Evangelium schloss wohl Buße und Glauben nicht ein. Stattdessen ging es darum, zu unserer Familie dazuzugehören, akzeptiert zu sein und Gelegenheiten zu haben, die eigenen Gaben und Interessen zu verwirklichen. Rechenschaft kam in dieser Gleichung auf jeden Fall nicht vor, genau so wenig wie Verbindlichkeit. Bevor wir auch nur darüber reden konnten, hatte der Leiter uns bereits verlassen.

Wenn Nichtchristen nie gesagt bekommen, dass sie keine Christen sind, sondern ihnen stattdessen beigebracht wird, dass sie „Weggefährten“, „Suchende“ oder „Leute auf einer anderen Etappe desselben Weges“ sind, dann werden sie leicht darüber verwirrt, was es wirklich heißt Christ zu sein und was es bedeutet an das Evangelium zu glauben. Das Verlangen von Menschen, zu einer tollen Familie dazuzugehören, kann sie viel zu schnell dazu bringen, sich dieser Jesus-Gemeinschaft anzuschließen, aber nie dem Gebot Jesu Folge zu leisten, Buße zu tun und zu glauben.

3. Es definiert die Ortsgemeinde grundlegend um

Die Ortsgemeinde ist eine Gemeinschaft und im Endeffekt wird eine Gemeinschaft nicht definiert durch ihre Schriften, Gebäude oder Programme, sondern durch die zugehörigen Personen – durch ein Volk, das durch gelebte Liebe und Heiligkeit Anteil hat an den Realitäten der Neuen Schöpfung und damit dann neue Plausibilitätsstrukturen schafft.

Das ist das, was Jesus lehrte: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,35).

Das ist das, was Paulus lehrte: „Wisst ihr nicht, dass ein wenig Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert? Darum fegt den alten Sauerteig aus, damit ihr ein neuer Teig seid, da ihr ja ungesäuert seid! Denn unser Passahlamm ist ja für uns geschlachtet worden: Christus.“ (1.Korinther 5,6–7) Und an anderer Stelle: „Zieht nicht an einem fremden Joch mit Ungläubigen! Denn was haben Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit miteinander zu schaffen? Und was hat das Licht für Gemeinschaft mit der Finsternis?“ (2. Korinther 6,14).

Das ist das, was Petrus lehrte: „(…) und führt einen guten Wandel unter den Heiden, damit sie da, wo sie euch als Übeltäter verleumden, doch aufgrund der guten Werke, die sie gesehen haben, Gott preisen am Tag der Untersuchung.“ (1. Petrus 2,12)

Das ist das, was Johannes lehrte: „Daran erkennen wir, dass wir ihn ihm sind. Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der ist verpflichtet, auch selbst so zu wandeln, wie jener gewandelt ist.“ (1. Johannes 2,5–6)

Dies ist die Zeugniskraft einer Gemeinde für Christus nach dem Neuen Testament. Wenn die Welt die Gemeinde beobachtet, dann sieht sie natürlich Sünder. Doch das ist nicht alles, was sie sieht. Sie sieht Sünder, deren Leben radikal durch das Evangelium verändert wird. Sie sieht Sünder, deren Liebe zueinander nicht anders erklärbar ist als durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi. Sie sieht Sünder, die sich nicht nur gegenseitig lieben, sondern Gott durch Jesus Christus lieben, und deren Leben diese Liebe in Heiligkeit und Wahrheit widerspiegeln.

Um an die Stelle zurückzukehren, an der wir angefangen haben: Die Gemeinde kann nur dann zu einer Plausibilitätsstruktur für den Glauben werden, wenn sie auch aus Menschen besteht, die wirklich Glauben haben.

All das ändert sich, wenn die Gemeinde zu einer Gemeinschaft von Menschen wird, die lediglich gemeinsam unterwegs sind. Für viele von ihnen ist der Ausgang der Reise unklar und ungewiss, andere sind auf dem Weg stecken geblieben, bevor sie das Ziel erreicht haben. Wieder andere haben das Ziel, die Rettung, erreicht. Aber die Gemeinschaft als solche ist dann nicht länger Zeuge der Wahrheit Jesu Christi und des Evangeliums. Das kann sie auch gar nicht, wenn man dazugehören kann bevor man glaubt.

Stattdessen ist die Gemeinschaft lediglich zum Zeugen für sich selbst geworden, für ihre Wärme, Offenheit und Inklusion. Aber was ist am Ende so einzigartig und überzeugend an ihr? Es gibt viele warmherzige und offene Gemeinschaften, viele Subkulturen hier in Portland, wo ich lebe. Doch sie bezeugen nicht Christus. Nur die Ortsgemeinde kann dieses. Die Gemeinde kann das nur tun, wenn man glauben muss um dazugehören zu können.

Kurzum: Die Ansicht davon, dass man dazugehören kann bevor man glaubt, definiert die Gemeinde grundlegend um, was auf lange Sicht die Zeugniskraft der Kirche untergräbt.

Eine bessere Idee

Dazugehören bevor man glaubt ist eine schlechte Idee. Einen besseren Ansatz beschreibt Jesus in Johannes 13: Eine Gemeinschaft, die einen tiefen Glauben an das Evangelium hat, sodass die Liebe zueinander ihr Leben charakterisiert. So eine Gemeinschaft, sagt Jesus, wird die Außenstehenden nicht nur erkennen lassen, dass sie draußen sind, sondern wird auch den Wunsch wecken, hinein zu kommen.

In dem Zusammenhang muss ich an ein Bild von einer Bäckerei an einem kalten verschneiten Tag denken. Der Hauch von köstlichen Backwaren und Kakao weht immer wieder nach draußen, während ein Kind seine Nase gegen die Glasscheibe presst. Dieses Glas ist eine Barriere. Ohne diese Barriere würde der warme, köstliche Duft sich schnell in Wohlgefallen auflösen, und keiner hätte gewusst, was es hier mal Köstliches gegeben hat. Aber es ist eine durchsichtige Barriere, die es dem Kind möglich macht, all die guten Sachen drinnen zu sehen, die es einladen hereinzukommen. Es gibt auch einen Weg hinein: Eine schmale Tür, durch die es gehen muss. Bis es das tut, kann es die schönen Dinge zwar sehen und bewundern, aber nicht genießen. Wenn es dann reingekommen ist, bekommt es alles, wonach es fragt.

Wenn Ungläubige in deine Gemeinde kommen, dann soll es so sein, als ob sie vor diesem Fenster stehen und nicht irritiert wie vor einer Steinmauer. Sie sollen die Wärme eurer Liebe spüren, indem du sie herzlich willkommen heißt und sie als Menschen behandelst, die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind. Sie sollen die Tiefe eurer Beziehungen sehen und bemerken, wie Menschen, die überhaupt keinen Grund haben füreinander zu sorgen keine Mühe scheuen um einander zu dienen. Sie sollen den Reichtum des Evangeliums schmecken, wenn das Wort Gottes gepredigt und gelehrt wird in einer Weise, die am Leben der Menschen andockt. Und sie sollen die einladenden Klänge einer fröhlichen Gemeinde hören, die als Volkes Gottes ihren gekreuzigten und auferstandenen Herrn anbetet in Lobpreis und Gebet.

Deshalb steht euch selbst und anderen nicht im Weg, sondern schafft eine Gemeinschaft, die Außenstehende herzlich aufnimmt. Achtet auf eure Wortwahl. Übt gezielt Gastfreundschaft aus und seid bewusst transparent. Wie eine Bäckerei, die ihren köstlichen Duft nach draußen pumpt, so feiert öffentlich die Werke der Gnade und der Veränderung, die in eurer Mitte geschehen. Wenn ihr das alles getan habt, dann verkündigt ein klares Evangelium und ladet Menschen ein, auf das Evangelium mit Buße und Glauben zu antworten. Ruft sie, nicht nach vorne zum Altar, sondern durch die schmale Pforte, sodass sie mit euch am Reichtum des Glaubens Anteil haben im Evangelium.

Wenn die Gemeinde den Auftrag hat, den Reichtum des Evangeliums nach außen hin darzustellen, dann darf die Grenze des Glaubens nicht entfernt werden. Denn genau dieser – nach außen getragene, gemeinsame – Glaube ist die stärkste Kraft, um Menschen in diese Gemeinschaft einzuladen.


  1.  Das ist ein soziologischer Begriff, welcher beschreibt, dass bestimmte Wahrheiten in einer bestimmten sozialen Gruppe als normal oder als plausibel angesehen werden / Anmerkung d.Ü.

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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