Predigen & Theologie

Das Problem vieler Predigten – und Biblische Theologie als Lösung

Von Thomas R. Schreiner

Thomas R. Schreiner ist Professor für Neues Testament am The Southern Baptist Theological Seminary in Louisville, Kentucky und einer der Ältesten in der Clifton Baptist Church. Außerdem ist er Autor zahlreicher Bücher. Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.
Artikel
03.02.2021
  • Diagnose: Wo liegt aktuell das Problem vieler Predigten? (Teil 1)
  • Entdeckungsreise: Was ist Biblische Theologie? (Teil 2)
  • Neuausrichtung: Wie wenden wir Biblische Theologie beim Predigen an (Teil 3)

Diagnose: Wo liegt aktuell das Problem vieler Predigten? (Teil 1)

In der Southern Baptist Convention, dem Gemeindebund, zu dem ich gehöre, haben wir lange die Frage nach der Irrtumslosigkeit der Schrift ausgefochten – diese Schlacht scheint gewonnen. Doch wir und auch andere evangelikale Denominationen oder Gemeinden, die ähnliche Siege errungen haben, sollten uns nicht zu schnell auf die Schulter klopfen. Viele konservative Gemeinden erkennen vielleicht mittlerweile die Irrtumslosigkeit der Schrift an. Aber das heißt nicht, dass sie in der Praxis auch die Genugsamkeit der Schrift leben. Wir können sagen, dass die Schrift das irrtumslose Wort Gottes ist und sie trotzdem nicht auf angebrachte Weise verkündigen.

Ich würde sogar sagen, dass viele evangelikale Gemeinden heute unter einer Art geistlichen Hungersnot leiden wegen einem Mangel an Gottes Wort. Predigtreihen werden in Anlehnung an Fernsehsendungen wie Gilligans Insel, Bonanza und Mary Tyler Moore betitelt und Predigten drehen sich häufig um Themen wie Schritte zu einer erfolgreichen Ehe oder Kindererziehung heute. Selbstverständlich ist es angebracht über Familienthemen zu predigen, doch allzu oft treten dabei zwei Probleme zutage: Erstens wird oft vernachlässigt, was die Schrift tatsächlich zu diesen Themen sagt. Wie viele Predigten gehen treu und eindringlich darauf ein, was Paulus wirklich über die Rolle von Mann und Frau in der Ehe sagt (Eph 5,22–33)? Oder schämen wir uns für das, was die Bibel sagt?

Zweitens: Noch schwerer wiegt möglicherweise, dass sich diese Predigten so gut wie immer schwerpunktmäßig um zwischenmenschliche Beziehungen drehen und nicht um die Beziehung zu Gott. Das wird Woche um Woche zur geistlichen Grundnahrung der Gemeinde, während das theologische Weltbild, das sich durch Gottes Wort zieht und das die Grundlage für alle Bereiche unseres Lebens sein soll, stillschweigend übergangen wird. Unsere Pastoren werden mehr und mehr zu Moralaposteln oder Ratgeberkolumnisten, die jede Woche Tipps für ein glückliches Leben geben.

Viele Gemeinden bemerken gar nicht, welches Muster sich hier einschleicht, weil das moralisch richtige Leben, das gepredigt wird, zumindest zu Teilen der Schrift entspricht. Die Predigten sprechen ein Bedürfnis von Christen wie Nichtchristen an.

Außerdem denken die meisten Pastoren, dass sie ihre Predigten mit Geschichten und Illustrationen füllen müssen, damit die eingestreuten Anekdoten die moralische Aussage der Predigt mit Leben füllen. Jeder gute Prediger benutzt Illustrationen, um seine Aussagen zu veranschaulichen. Doch Predigten können so mit Geschichten überhäuft sein, dass kein Platz mehr für irgendwelche theologischen Aussagen bleibt.

Ich höre unter Evangelikalen regelmäßig, dass es um die evangelikalen Gemeinden im Bereich Theologie gut bestellt ist, weil unsere Gemeinden nichts daran auszusetzen haben, was wir sie lehren. Ich finde solche Kommentare erschreckend. Als Pastoren haben wir die Verantwortung, „den ganzen Ratschluss Gottes“ zu verkündigen (Apg 20,27). Wir können uns doch nicht auf Gemeindeumfragen verlassen, wenn wir prüfen, ob wir unserer Berufung gerecht werden. Wir müssen darauf bauen, was die Schrift sagt. Es kann schließlich sein, dass die befragte Gemeinde gar nicht ernsthaft aus Gottes Wort gelehrt wird und daher bisher gar nicht bemerkt hat, dass wir als Pastoren nicht unsere Aufgabe erfüllen.

Paulus warnt uns, dass „räuberische Wölfe zu euch hineinkommen werden, die die Herde nicht schonen“ (Apg 20,29). Und an anderer Stelle sagt er, dass „eine Zeit kommen [wird], da werden sie die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern sich selbst nach ihren eigenen Lüsten Lehrer beschaffen, weil sie empfindliche Ohren haben; und sie werden ihre Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Legenden zuwenden“ (2Tim 4,3–4). Wenn wir unsere Predigten einzig an den Wünschen unserer Gemeinde messen, dann ist der Weg in die Irrlehre nicht mehr weit. Achtung: Ich sage nicht, dass unsere Gemeinden irrgläubig sind; ich sage lediglich, dass Gottes Wort und nicht die landläufige Meinung der Prüfstein für unsere Treue sein muss. Als Pastoren sind wir dazu berufen, die Herde mit Gottes Wort zu ernähren und nicht den Menschen zu gefallen, indem wir ihnen das erzählen, was sie hören wollen.

Allzu oft sind Gemeinden deshalb schlecht zugerüstet, weil wir nicht angemessen predigen. Was passiert, wenn die geistliche Grundnahrung, mit der wir die Gemeinde versorgen, aus moralistischen Predigten besteht? Womöglich lernen die Gemeindemitglieder, wie man freundlich, liebevoll und ein guter Ehemann bzw. eine gute Ehefrau wird – alles gute Dinge, keine Frage! Vielleicht werden ihre Herzen weit und warm, vielleicht werden sie sogar aufgebaut. Doch solange die theologischen Grundlagen vernachlässigt werden, lauert der Wolf der Irrlehre immer näher vor unserer Tür. Wie das? Nicht etwa, weil der Pastor selbst der Irrlehre verfallen wäre. Er kann selbst durch und durch rechtgläubig und treu in seiner Theologie sein. Er nimmt jedoch als gegeben an, dass die theologischen Zusammenhänge allen klar sind, und versäumt so, der Gemeinde den roten Faden und die Theologie der Bibel aufzuzeigen.

Unbeabsichtigt und nichts ahnend vergibt die Gemeinde ein, zwei Generationen später die Pfarrstelle an einen liberalen Nachfolger. Dieser neue Pastor predigt auch, dass wir gut und freundlich und liebevoll sein sollen. Er betont auch, wie wichtig gute Ehen und gesunde Beziehungen sind. Die Zuhörer bemerken möglicherweise nicht einmal einen Unterschied, weil die Theologie genauso klingt wie die Theologie seines konservativen Vorgängers – und das ist sie gewissermaßen auch, da der konservative Pastor seine Theologie nie verkündigt bzw. gepredigt hat. Der konservative Pastor glaubte an die Irrtumslosigkeit der Schrift, doch nicht an ihre Genugsamkeit, da er seiner Gemeinde nicht die ganze Schrift gepredigt hat.

Unser mangelndes Wissen über Biblische Theologie zeigt sich ständig. In meiner Erinnerung stechen zwei Beispiele aus den letzten zehn Jahren hervor: Das erste Beispiel war in einem großen Stadion mit einem Sprecher, dessen Name mir entfallen ist. Die Predigt im Stadion sollte evangelistisch sein, doch das Evangelium wurde ehrlich gesagt überhaupt nicht verkündigt. Er hat den gekreuzigten und auferstandenen Christus gar nicht erwähnt, geschweige denn den Grund für Kreuz und Auferstehung. Es war nirgendwo die Rede davon, dass wir durch Glauben, nicht durch Werke gerettet werden. Tausende Menschen kamen nach vorne und wurden mit Sicherheit als „gerettet“ notiert. Ich kratzte mich am Kopf und fragte mich, was hier wirklich gerade passiert war. Ich betete, dass zumindest einige sich wirklich bekehrt hatten, weil sie vielleicht schon vorher den Inhalt des Evangeliums gehört hatten. Ähnliches erlebte ich in einer Gemeinde, wo ich zum Gottesdienst zu Besuch war. Der Prediger rief seine Zuhörer eindringlich auf: „Kommt nach vorne!“ und „Werdet gerettet!“, doch er erklärte das Evangelium überhaupt nicht.

Diese Art von Verkündigung füllt unsere Gemeinden mit unbekehrten Menschen, die sich für Christen halten, was in zweifacher Hinsicht gefährlich ist:

  1. Ihnen ist von den Pastoren versichert worden, dass sie sich bekehrt haben und dass sie ihr Heil nie wieder verlieren können, doch sie sind immer noch verloren.
  2. Von diesem Tag an werden diese Menschen Sonntag für Sonntag das neue Evangelium unserer postmodernen Zeit gelehrt: Seid nett zueinander.

Entdeckungsreise: Was ist Biblische Theologie? (Teil 2)

Die Lösung für die Probleme oberflächlicher Predigten, die wir in Teil 1 gesehen haben, ist eigentlich recht einfach: Wir Pastoren müssen lernen, in unseren Predigten Biblische Theologie anzuwenden. Doch wenn wir das lernen wollen, müssen wir zunächst die Frage beantworten, was Biblische Theologie eigentlich ist.

Biblische Theologie im Vergleich zur Systematischen Theologie

Biblische Theologie konzentriert sich im Gegensatz zur systematischen Theologie auf den gesamtbiblischen Erzählstrang. Systematische Theologie ist zwar von Biblischer Theologie geprägt, doch sie ist nicht an die zeitliche Abfolge der Bibel gebunden. Don Carson erläutert, dass Biblische Theologie

„dem Text näher steht als Systematische Theologie, ein echtes Feingefühl für die Besonderheit jeder Texteinheit erzielen möchte und die verschiedenen Texte in Zusammenhang zueinan der setzen möchte, indem sie die texteigenen Kategorien verwendet.“ Idealerweise stellt Biblische Theologie eine Art Brückendisziplin zwischen einer verantwortungsbewussten Exegese und einer verantwortungsbewussten Systematischen Theologie dar (obwohl sich diese Disziplinen unweigerlich gegenseitig beeeinflussen).[1]

Mit anderen Worten: Biblische Theologie beschränkt sich bewusster auf die Botschaft des Textes bzw. der Texteinheit, mit der wir uns beschäftigen. Sie geht der Frage nach, welche Themen für die biblischen Autoren in ihrem historischen Kontext im Mittelpunkt standen, und versucht die Kohärenz zwischen diesen Themen zu erarbeiten. Biblische Theologie konzentriert sich auf den gesamtbiblischen Erzählstrang: auf Gottes Heilsplan, der sich im Laufe der Heilsgeschichte fortschreitend offenbart. Wie wir in Teil 3 näher sehen werden, bedeutet diese Tatsache, dass wir folglich jeden Text im Kontext seiner Stellung im gesamtbiblischen Erzählstrang auslegen und predigen sollten.

Systematische Theologie stellt ihrerseits Fragen an den Text, die sich aus den Fragen und philosophischen Problemen unserer Zeit ergeben. Die Systematische Theologie kann auch – mit gutem Ergebnis – Themen untersuchen, die in den biblischen Schriften enthalten sind, auf denen jedoch nicht der eigentliche Fokus des biblischen Texts liegt. Dennoch liegt es auf der Hand, dass jegliche Systematische Theologie, die ihrem Namen gerecht werden soll, immer auf der Biblischen Theologie aufbauen muss.

Der besondere Akzent der biblischen Theologie liegt laut Brian Rosner darin, dass sie „den biblischen Text die Richtung vorgeben lässt.“[2] Kevin Vanhoozer formuliert die konkrete Rolle der Biblischen Theologie folgendermaßen: „‚Biblische Theologie‘ bezeichnet einen Auslegungsansatz, dem die Annahme zugrundeliegt, dass das Wort Gottes sich textlich durch die verschiedenen literarisch und historisch bedingten Menschenworte vermittelt wird.“[3] Oder: „Um den Anspruch noch positiver auszudrücken: Biblische Theologie entspricht den Interessen des Textes selbst.“[4]

Carson drückt den Beitrag der biblischen Theologie treffend aus

„Idealerweise jedoch bemüht sich Biblische Theologie, wie ihr Name nahelegt, die Einheit aller biblischen Texte zusammengenommen sichtbar zu machen und auszudrücken und dabei hauptsächlich auf die texteigenen Kategorien zurückzugreifen, auch wenn sie induktiv aus den verschiedenen Bibeltexten heraus arbeitet. In diesem Sinne ist die kanonische, biblische Theologie eine ‚gesamtbiblische‘ Biblische Theologie.“[5]

Biblische Theologie kann sich einerseits auf die Theologie eines oder mehrerer Bücher begrenzen, z.B. des 1. Buches Mose, der fünf Bücher Mose, des Matthäusevangeliums, des Römerbriefs oder der Schriften des Paulus. Andererseits kann sie auch den gesamten biblischen Kanon umfassen, in dem der biblische Erzählstrang als Ganzes verflochten ist. Allzu oft beschränken sich Prediger auf ein bestimmtes Buch, z.B. auf das 3. Buch Mose, das Matthäusevangelium oder die Offenbarung des Johannes, ohne darüber nachzudenken, welche Stellung es in der Heilsgeschichte einnimmt. Sie isolieren einen Teil der Schrift vom Rest und predigen demnach mit gestutzten Flügeln, statt den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen. Gerhard Hasel bemerkt ganz richtig, dass wir Biblische Theologie in einer Art und Weise betreiben müssen, „die allen Dimensionen der Wirklichkeit, die von den biblischen Texten bezeugt werden, gerecht werden soll.“[6] Biblische Theologie ist nicht nur eine Sache für Universitätsprofessoren, sondern fällt in die Verantwortung jedes Predigers des Wortes Gottes!

Schauen wir weiter auf die Unterschiede zwischen Systematischer und Biblischer Theologie, für die Carson den Weg ebnet.[7] Systematische Theologie berücksichtigt den Beitrag der Historischen Theologie und schöpft daher aus den Werken von Augustinus, Aquinas, Luther, Calvin, Edwards und zahllosen anderen, um die Lehre der Schrift zu formulieren. Systematische Theologie versucht, das Wort Gottes direkt in den Kontext der heutigen Kultur hineinzusprechen. Offenkundig muss sich daher jeder gute Prediger in der Systematischen Theologie auskennen, um ein tiefgreifendes und machtvolles Wort ins Leben seiner Zeitgenossen sprechen zu können.

Biblische Theologie ist induktiver und grundlegender als Systematische Theologie. Carson sagt ganz richtig, dass Biblische Theologie eine „vermittelnde Disziplin“ ist, während Systematische Theologie eine „kulminierende Disziplin“ ist. Wir können also sagen, dass Biblische Theologie eine vermittelnde Position hat und als Brücke zwischen dem historischen und literarischen Studium der Schrift und der dogmatischen Theologie steht.

Der Ausgangspunkt für Biblische Theologie ist daher der Text in seinem historischen Kontext. Das heißt nicht, dass Biblische Theologie ein rein neutrales oder objektives Unterfangen ist. Die Vorstellung, dass wir sauber voneinander trennen können, was der Text damals bedeutet hat und was er heute bedeutet, wie Krister Stendahl behauptete, ist ein Trugschluss. Scobie sagt folgendes über die biblische Theologie:

„Zu ihren Vorannahmen, die auf dem christlichen Glauben gegründet sind, gehören die Überzeugung, dass die Bibel eine göttliche Offenbarung vermittelt; dass das Wort Gottes in der Schrift die Norm für den christlichen Glauben und das christliche Leben darstellen; und dass das verschiedenartige Material des Alten und Neuen Testaments auf die eine oder andere Weise mit dem Plan und der Absicht des einen Gottes der Bibel in Zusammenhang gebracht werden kann. Eine solche Biblische Theologie steht irgendwo zwischen dem, was die Bibel ‚bedeutet hat‘ und was sie heute ‚bedeutet‘.“[8]

Daraus folgt: Biblische Theologie beschränkt sich nicht allein auf das Neue Testament oder das Alte Testament, sondern versteht beide Testamente zusammengenommen als das Wort Gottes. Tatsächlich geht Biblische Theologie vom Kanon der Schrift als ihrer Norm aus sowie davon, dass beide Testamente erforderlich sind, um die Theologie der Schrift zu ergründen.

Gleichgewicht zwischen Altem und Neuem Testament

Es gibt in der Biblischen Theologie eine wunderbare Dialektik zwischen dem Alten und dem Neuen Testament. Die Heilsgeschichte, die im Alten Testament beginnt, findet im Neuen Testament ihren Höhepunkt. Das macht Biblische Theologie per Definition zu einer narrativen Theologie. Sie erzählt die Geschichte von Gottes Rettungsplan, der sich fortschreitend offenbart. Wir sprechen dabei von der Heilsgeschichte bzw. der Erlösungsgeschichte.

Es ist außerdem gewinnbringend, die Schrift im Blick auf Verheißung und Erfüllung zu lesen: Was im Alten Testament verheißen wird, erfüllt sich im Neuen Testament. Wir dürfen dabei allerdings nicht die historischen Besonderheiten der alttestamentlichen Offenbarung außer Acht lassen, weil wir sonst den historischen Kontext, aus dem diese Texte stammen, unter den Tisch fallen lassen. Nichtsdestotrotz müssen wir erkennen, dass vom Alten Testament hin zum Neuen Testament eine fortschreitende Offenbarung festzustellen ist. Diese fortschreitende Offenbarung macht die vorläufige Natur des Alten Testaments und das endgültige Wort, das im Neuen Testament kommt, erkennbar. Wenn wir das Alte Testament als vorläufig bezeichnen, heben wir damit nicht seine entscheidende Rolle auf, denn wir können das Neue Testament nur verstehen, wenn wir auch die Bedeutung des Alten Testaments begriffen haben, und umgekehrt.

Manch einer ist eher zögerlich, was das Thema Typologie angeht, doch der der typologische Ansatz ist grundlegend für die Biblische Theologie, weil die biblischen Autoren selbst in diesen Kategorien denken. Was bedeutet Typologie? Typologie beschreibt bestimmte gottgewollte Entsprechungen zwischen Ereignissen, Personen und Institutionen im Alten Testament und ihrer Erfüllung in Christus im Neuen Testament.[9] Beispielsweise greift das Matthäusevangelium die Sprache des alttestamentlichen Auszugs aus Ägypten des Volkes Israel auf, als es die Rückkehr von Maria, Josef und Jesus aus Ägypten beschreibt (Mt 2,152Mo 4,22Hos 11,1). Natürlich erkennen nicht nur die neutestamentlichen Autoren diese „gottgewollten Entsprechungen“. Auch die alttestamentlichen Autoren sehen sie. Beispielsweise sagen sowohl Jesaja als auch Hosea einen erneuten Exodus voraus, der dem Muster des ersten Exodus folgen wird. Gleichermaßen sehen wir im Alten Testament die Erwartung, dass ein neuer David kommen wird, der sogar noch besser sein wird als der erste David. Wir sehen im Alten Testament selbst eine Steigerung in der Typologie, sodass die Erfüllung des Typus immer besser ist als der Typus selbst. Jesus ist nicht nur ein neuer David, sondern der bessere David.

Die Typologie erkennt ein göttliches Muster und eine göttliche Absicht in der Geschichte. Gott ist der letztliche Autor der Schrift – und so ist die biblische Erzählung ein göttliches Schauspiel. Und Gott kennt den Verlauf von Anfang bis Ende, sodass wir als Leser im Alten Testament bereits schattenhafte Ankündigungen der endgültigen Erfüllung ausmachen können.Neuausrichtung: Wie wir Biblische Theologie beim Predigen anwenden (Teil 3)

Bei der Verkündigung der Schrift ist es entscheidend, dass wir ermitteln, in welche Phase der Heilsgeschichte das jeweilige biblische Buch fällt. Auf die Gefahr hin, die Sache zu vereinfachen: Eine gute Biblische Theologie braucht im Grunde nur zwei Dinge – wir blicken erst zurück und dann auf das große Ganze.

Zurückblicken – Vorausgegangene Theologie

Walter Kaiser erinnert uns daran, dass wir in jedem biblischen Buch, über das wir predigen, auch die vorausgegangene Theologie beachten müssen.[10]

Wenn wir z.B. über das 2. Buch Mose predigen, werden wir dessen Botschaft leider kaum richtig auslegen, wenn wir es losgelöst vom vorausgegangenen Kontext lesen. Im Fall vom 2. Buch Mose ist das die Botschaft, die vom 1. Buch Mose vermittelt wird. Wir erfahren im 1. Buch Mose, dass Gott der Schöpfer aller Dinge ist und dass er die Menschen in seinem Bilde geschaffen hat, damit diese seine Herrschaft über die gesamte Welt ausüben. Adam und Eva haben Gott jedoch nicht vertraut und gegen sein göttliches Gebot verstoßen. Auf die Schöpfung folgte der Sündenfall, durch den Tod und Elend in die Welt gekommen sind. Gott verspricht aber auch, dass durch den Samen der Frau der endgültige Sieg kommen wird (1Mo 3,15). Zwischen dem Samen der Frau und dem Samen der Schlange wird es zu einem heftigen Kampf kommen. Doch der erstgenannte wird gewinnen. Wir sehen im übrigen 1. Buch Mose den Kampf zwischen dem Samen der Frau und dem Samen der Schlange und wir erfahren, dass der Samen der Schlange eine auffallend große Kraft hat. Kain tötet Abel; die Gottlosen gewinnen die Oberhand über die Gerechten, bis nur noch Noah und seine Familie übrig sind; die Menschen verschwören sich gegen Gott, um sich durch den Turmbau zu Babel selbst einen Namen zu machen. Dennoch bleibt Gott souverän. Er richtet Kain. Er zerstört in der Sintflut alle außer Noah und seine Familie. Und er vereitelt die Pläne der Menschen beim Turmbau zu Babel.

Gott schließt einen Bund mit Abraham, Isaak und Jakob und verspricht, dass der Sieg, der in 1. Mose 3,15 verheißen wird, durch ihren Samen geschehen soll. Gott wird ihnen Samen, Land und universalen Segen schenken. Das 1. Buch Mose beschreibt in erster Linie die Verheißung des Samens. Mit anderen Worten: Abraham, Isaak und Jakob gehört weder das verheißene Land noch sind sie zu ihren Lebzeiten ein Segen für die ganze Welt. Doch das 1. Buch Mose endet mit einem Bericht über die zwölf Söhne, die Gott Jakob geschenkt hat.

Inwiefern ist diese „vorausgegangene Theologie“ des 1. Buches Mose also relevant für das 2. Buch Mose? Sie bildet die Grundlage für das 2. Buch Mose. Es beginnt damit, dass das Volk Israel in großem Maße zunimmt. Wir erkennen sofort, wie sich die Verheißung vieler Nachkommen an Abraham aus 1. Mose erfüllt. Nicht nur das: Wenn wir an 1. Mose 3 zurückdenken, erkennen wir, dass der Pharao ein Nachkomme der Schlange ist, während Israel für den Samen der Frau steht. Der Versuch des Pharaos, alle männlichen Nachkommen zu töten, steht für die zerstörerischen Absichten des Samens der Schlange. Wir sehen, wie sich der Kampf zwischen den beiden Samen, der in 1. Mose vorausgesagt wird, fortsetzt.

Wenn wir weiter durch das 2. Buch Mose und die übrigen Bücher des Pentateuchs gehen, erkennen wir, dass die Befreiung Israels aus Ägypten und die Verheißung, dass das Volk das Land Kanaan einnehmen wird, eine weitere Erfüllung von Gottes Bund mit Abraham ist. Die Verheißung des Landes beginnt sich nun zu erfüllen. Außerdem steht das Volk Israel jetzt gewissermaßen für einen neuen Adam in einem neuen Land. Wie Adam sollen sie im Glauben und im Gehorsam an dem Ort leben, den Gott ihnen gegeben hat.

Wenn wir 2. Mose lesen würden, ohne die vorausgegangene Botschaft von 1. Mose zu kennen, würden wir die Bedeutsamkeit dieser Geschichte übersehen. Wir würden den Text losgelöst von seinem Kontext lesen und einer willkürlichen Lesweise zum Opfer fallen.

Die Bedeutung der vorausgegangenen Theologie zeigt sich über den ganzen Kanon hinweg. Wir können an dieser Stelle lediglich einige Beispiele geben. Zum Beispiel:

  • Die Landnahme unter Josua muss vor dem Hintergrund von Gottes Bund mit Abraham verstanden werden, damit klar wird, dass der Besitz Kanaans die Verheißung an Abrahm erfüllt, dass er das Land sein Eigen nennen sollte.
  • Andererseits stellen sowohl das Exil des Nordreichs (722 v. Chr.) und das Exil des Südreichs (586 v. Chr.), die von den Propheten angekündigt und in mehreren biblischen Büchern beschrieben werden, eine Erfüllung des Bundesfluchs aus 3. Mose 26 und 5. Mose 27–28 dar. Wenn Prediger und Gemeinde die vorausgegangene Theologie des mosaischen Bundes und den Zusammenhang von Fluch und Segen, die dem Volk dort vorgehalten werden, nicht kennen, dann werden sie kaum den Sinn erkennen, weshalb Israel und Juda ins Exil weggeführt werden.
  • In der Verheißung eines neuen Davids spiegelt sich Gottes Bund mit David wider, in dem Gott David verspricht, dass seine Dynastie für immer bestehen wird.
  • Der Tag des Herrn, der in den Prophetenbüchern hervorsticht, muss vor dem Hintergrund der Verheißung an Abraham verstanden werden.

Und das Gleiche gilt natürlich für das Neue Testament.

  • Wir können schwerlich die Bedeutung des Reiches Gottes in den synoptischen Evangelien verstehen, wenn wir nicht den alttestamentlichen Erzählstrang verstehen und Gottes Bündnisse mit Israel und Gottes Verheißungen an Israel kennen.
  • Die Bedeutung von Jesus als Messias, als Menschensohn und als Sohn Gottes ist durch und durch im Alten Testament verankert.
  • Die Apostelgeschichte ist, wie Lukas in seinen einführenden Worten erklärt, eine Fortsetzung dessen, was Jesus zu tun und zu lehren begonnen hatte, und ist daher sowohl vom Alten Testament als auch von Jesu Wirken, Tod und Auferstehung geprägt.
  • Auch die Briefe sind im wundervollen Erlösungswerk, das Jesus für uns errungen hat, verwurzelt und bieten den Gemeinden Erklärungen und Anwendungen der Heilsbotschaft und der Erfüllung von Gottes Verheißungen.
  • Zu guter Letzt gipfelt die Geschichte der Bibel in der Offenbarung. Sie ist nicht einfach nur ein Anhang, der ein wenig Vorfreude auf die Endzeit machen soll. Die vielen Anspielungen an das Alte Testament zeigen, dass das Buch der Offenbarung vor dem Hintergrund der alttestamentlichen Offenbarung verfasst wurde. Das Buch ergibt außerdem keinen Sinn, wenn wir es nicht als die Vollendung all dessen sehen, was Jesus Christus gelehrt und getan hat.

Das soll nicht heißen, dass das fortschreitende Thema der Erlösung in allen Büchern des Kanons denselben zentralen Platz einnimmt. Denken wir etwa an Weisheitsliteratur wie das Hohelied, Hiob, Prediger, Sprüche und Psalmen. Doch selbst in diesen Fällen setzen die biblischen Autoren die grundlegenden Wahrheiten von Schöpfung und Sündenfall aus 1. Mose sowie die besondere Rolle des Volkes Israel als Gottes Bundesvolk voraus. Manchmal drücken sie diese Rolle sogar direkt aus, z.B., wenn in den Psalmen die Geschichte Israels erzählt wird. Dennoch sind wir an die Vielfalt des Kanons erinnert und begreifen, dass nicht jeder Typ Literatur dieselbe Funktion hat.

Der Hauptpunkt ist: Der Prediger muss so predigen, dass er seine Predigten in den größeren Zusammenhang der biblischen Heilsgeschichte setzt. Seine Zuhörer müssen den roten Faden in dem, was Gott tut, verstehen und erkennen, wie jeder Teil der Schrift zum großen Ganzen beiträgt. Das bringt uns zum nächsten Punkt.

Das Ganze sehen – kanonisch predigen

Als Prediger dürfen wir uns nicht nur auf die vorausgegangene Theologie beschränken. Wir müssen auch die ganze Schrift berücksichtigen, d.h. das kanonische Zeugnis, das wir jetzt im Wirken, im Tod und in der Auferstehung Jesu Christi haben. Wenn wir nur die vorausgegangene Theologie predigen, werden wir das Wort der Wahrheit nicht präzise austeilen oder den Menschen heute Gottes Botschaft weitersagen können.

Wenn wir über die ersten Kapitel des 1. Buches Mose predigen, dann müssen wir auch verkündigen, dass der Same der Frau, von dem dort die Rede ist, Jesus Christus ist. Und dann werden wir auch erklären, dass die Schöpfung nicht für immer dem Sündenfall unterworfen sein wird, sondern dass die Mühsal und Vergeblichkeit der gefallenen Welt durch das Werk Jesu Christi aufgehoben werden wird (Röm 8,18–25). Unsere Zuhörer müssen verstehen, dass die alte Schöpfung nicht das letzte Wort ist, sondern dass es eine neue Schöpfung in Christus Jesus gibt. Wir müssen ihnen aus dem Buch der Offenbarung zeigen, dass das Ende besser ist als der Anfang und dass der Segen der ursprünglichen Schöpfung in der neuen Schöpfung sozusagen in Übergröße vorhanden sein wird.

Was haben wir als Prediger denn zu sagen, wenn wir über das 3. Buch Mose predigen, ohne über die Erfüllung in Jesus Christus zu sprechen? Natürlich müssen wir predigen, dass die alttestamentlichen Opfer sich im Erlösungswerk Jesu Christi am Kreuz erfüllt haben!

Auch die Speise- und Reinheitsgebote müssen kanonisch ausgelegt werden, denn dann begreifen wir, dass der Herr von uns nicht mehr fordert, diese Regeln zu befolgen. Sie weisen uns stattdessen auf etwas Besseres hin: auf den Wandel in Heiligkeit und das neue Leben, das wir als Gläubige führen sollen (1Kor 5,6–81Petr 1,15–16).

Außerdem lehrt uns das Neue Testament unmissverständlich, dass die Gläubigen heute nicht mehr unter dem mosaischen Gesetz sind (Gal 3,15–4,72Kor 3,7–18). Der alte Bund war für einen bestimmten Abschnitt in der Heilsgeschichte eingesetzt. Jetzt, da die Erfüllung in Christus angebrochen ist, stehen wir nicht mehr unter dem Bund, den Gott mit dem Volk Israel eingesetzt hat. Daher wäre es ein Fehler, anzunehmen, dass die Gesetze, die für das Volk Israel als Staat bindend waren, auch als Muster für heutige Staaten dienen müssen – wie heutzutage die Theonomie meint. Wir müssen in unserer Verkündigung den Unterschied zwischen Israel als Volk Gottes und der Gemeinde Jesu Christi erklären. Israel war Gottes theokratisches Volk, das sowohl Gottes Bundesvolk als auch eine politische Einheit darstellte. Doch die Gemeinde Jesu Christi ist keine politische Einheit mit einem Gesetzeskatalog wie ein politischer Staat. Die Gemeinde besteht aus Menschen aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen. Wenn wir diesen Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Bund nicht klar herausstellen, dann kann es enormen Schaden in unseren Gemeinden anrichten.

Wenn wir die Unterschiede zwischen altem und neuem Bund nicht verstehen, dann wird es uns beispielsweise schwerfallen die Inbesitznahme des Landes im Buch Josua zu verkündigen. Die Verheißung an die Gemeinde Jesu Christi ist nicht, dass sie eines Tages das Land Kanaan besitzen wird! Vielmehr erfahren wir beim Lesen des Neuen Testaments, dass die Verheißung des Landes typologisch zu verstehen ist und im Neuen Testament in einer endgültigen Erfüllung gipfelt. Der Hebräerbrief erklärt, dass die Ruhe, die unter Josua verheißen wird, nie als endgültige Ruhe für Gottes Volk gedacht war (Hebr 3,7–4,13). Paulus erklärt, dass die Verheißung des Landes an Abraham nicht auf das Land Kanaan begrenzt werden kann, sondern mittlerweile noch universeller zu verstehen ist und sich auf die ganze Welt bezieht (Röm 4,13). Wir entdecken im Hebräerbrief, dass wir als Gläubige nicht auf eine irdische Stadt, sondern auf eine himmlische Stadt warten (Hebr 11,10.14–1613,14), eine kommende Stadt. Oder wie es Johannes in Offenbarung 21–22 beschreibt: Wir warten auf das himmlische Jerusalem, was nichts anderes ist als eine neue Schöpfung. Mit anderen Worten: Wenn wir über das Buch Josua predigen und nicht unser Erbe in Christus und in der neuen Schöpfung betonen, dann sind wir kläglich gescheitert, bei der Auslegung des Buchs den roten Faden durch die Bibel zu vermitteln. Wir haben die Botschaft beschnitten, sodass unsere Gemeinde nicht sehen konnte, dass sich die ganze Schrift in Christus erfüllt und dass alle Verheißungen Gottes ihr „Ja“ und „Amen“ in Christus Jesus finden (2Kor 1,20).

Wenn wir die Schrift kanonisch predigen und dabei die Biblische Theologie anwenden, dann werden wir Christus aus dem Alten Testament und dem Neuen Testament verkündigen. Wir müssen dabei selbstverständlich aufpassen, dass wir keine grob vereinfachenden Allegorien oder erzwungenen Zusammenhänge zwischen den Testamenten predigen. Wir können diese Art Fehler vermeiden, wenn wir eine sorgfältige Biblische Theologie betreiben und und der Hermeneutik der apostolischen Autoren selbst folgen. Die apostolischen Autoren waren schließlich davon überzeugt, dass das Alte Testament selbst auf Christus verweist und sich in ihm erfüllt. Und sie hatten ihre Hermeneutik von Jesus Christus selbst gelernt, genau wie Kleopas und sein Freund, denen Jesus die Schrift auf der Straße nach Emmaus aufgeschlossen hatte (Lk 24). Einige führen in dieser Hinsicht an, dass die Hermeneutik der Apostel von Gott inspiriert war und daher heute nicht nachgeahmt werden sollte.[11] Diese Sicht birgt jedoch Fehler, weil sie suggeriert, dass die Erfüllung, die die Apostel im Alten Testament sahen, nicht mit der eigentlichen Textbedeutung übereinstimmt. Wenn das der Fall wäre, dann müssten die Zusammenhänge zwischen Altem und Neuem Testament willkürlich sein und dann wären die Apostel (und Christus selbst!) uns heute kein Vorbild für die Auslegung des Alten Testaments.

Wenn wir allerdings glauben, das die Apostel von Gott inspirierte und weise Leser des Alten Testaments waren, dann haben wir ein Muster, wie wir das gesamte Alte Testament vor dem Hintergrund der Erfüllung in Jesus Christus lesen müssen. Der Erzählstrang und die Strukturen des Alten Testaments weisen alle auf ihn und werden in ihm vollendet.[12] Wenn wir von der Verheißung an Abraham im Alten Testament lesen, dann erkennen wir, dass sie sich in Christus Jesus erfüllt. Die Schatten der alttestamentlichen Opfer finden ihr Wesen in Christus. Weitere Beispiele:

  • Jüdische Feste wie das Passah, das Erntedankfest und das Laubhüttenfest verweisen auf Christus als unser Passahlamm, auf die Gabe des Heiligen Geistes und auf Jesus als Licht der Welt.
  • Christen müssen nicht mehr den Sabbat halten, weil er einer der Schatten des alten Bundes (Kol 2,16–17; vgl. Röm 14,5) und Teil des Bunds am Sinai ist, der für die Gläubigen nicht mehr in Kraft ist (Gal 3,15–4,72Kor 3,4–18Hebr 7,11–10,18). Der Sabbat ist eine Vorausschau auf die Ruhe, die für uns nun bereits in Christus angefangen hat und die in der himmlischen Ruhe am jüngsten Tag vollendet werden wird.
  • Der Tempel nimmt Christus als den wahren Tempel voraus, während die Beschneidung ihre vollendete Erfüllung in der Beschneidung des Herzens findet, die im Kreuz Christi verankert und durch das Wirken des Geistes gewonnen wird.
  • David als König über Israel und Mann nach Gottes Herzen steht nicht für den Gipfel des Königtums; David ist ein Typus von Jesus Christus. Christus, der bessere David, war ohne Sünde. Er ist der messianische König, der durch sein Wirken, seinen Tod und seine Auferstehung die Verheißungen Gottes an sein Volk herbeigeführt hat.

Wenn wir das Alte Testament nicht hinsichtlich des ganzen Kanons predigen, dann werden wir uns entweder auf moralische Lektionen aus dem Alten Testament beschränken, oder (was genauso wahrscheinlich ist) selten aus dem Alten Testament predigen. Als Christen wissen wir, dass große Teile des Alten Testaments nicht mehr direkt auf unsere Situation heute anwendbar sind. Beispielsweise hat Gott nicht versprochen uns aus politischer Unterdrückung zu befreien wie Israel damals aus der Knechtschaft in Ägypten. Das Land Israel ist heute ein politisches Pulverfass, doch als Christen glauben wir nicht, dass unsere Freude darauf beruht, dass wir in Israel leben, oder dass unsere Anbetung im Gang zum Tempel besteht, um dort zu opfern. Wenn wir das Alte Testament allerdings nicht kanonisch vor dem Hintergrund der Biblischen Theologie predigen, werden wir es oft aus unserem Predigtplan ausklammern. Wenn wir das tun, berauben wir uns selbst nicht nur wunderbarer Schätze aus Gottes Wort, sondern wir versäumen auch die Tiefe und den facettenreichen Charakter der biblischen Offenbarung. Wir bringen uns in eine Position, in der wir das Alte Testament nicht so lesen, wie es Jesus und die Apostel getan haben. Wir erkennen nicht, dass die Verheißungen Gottes in Jesus Christus ihr „Ja“ und „Amen“ haben.

Wenn wir das Alte Testament kanonisch lesen, heißt das nicht, dass wir es losgelöst von seinem historisch-kulturellen Kontext lesen. Die erste Aufgabe jedes Auslegers ist es, das Alte Testament für sich genommen zu lesen und die Bedeutung, die der biblische Autor damals beabsichtigte, zu ermitteln. Außerdem muss jedes alttestamentliche Buch vor dem Hintergrund seiner vorausgegangenen Theologie gelesen werden, damit der gesamtbiblische Erzählstrang klar wird. Doch wir müssen die gesamte Schrift auch kanonisch lesen, sodass das Alte Testament vor dem Hintergrund der ganzen Geschichte gelesen wird – nämlich der Erfüllung in Jesus Christus.

Kurzum: Wir sollten immer die Perspektive auf das große Ganze – also die Perspektive des göttlichen Verfassers – berücksichtigen, wenn wir Biblische Theologie betreiben und Gottes Wort predigen. Wir sollten die Bibel von vorne nach hinten und von hinten nach vorne lesen. Wir sollten immer die Geschichte berücksichtigen, die dabei ist, sich zu entwickeln, und das Ende der Geschichte.

Zusammenfassung

Unsere Aufgabe als Prediger ist es, den ganzen Ratschluss Gottes zu verkündigen. Wir werden unserer Berufung nicht gerecht, wenn wir keine Biblische Theologie betreiben. Es kann gut sein, dass unsere moralischen Lektionen und greifbaren Illustrationen dennoch auf Anerkennung stoßen. Aber wir tun keinen treuen Dienst an unseren Gemeinden, wenn wir ihnen nicht zeigen, dass die ganze Schrift auf Christus verweist, und wenn sie nicht immer besser den roten Faden durch die Bibel und die biblischen Zusammenhänge erkennen. Möge Gott uns zu treuen Lehrern und Predigern machen, um jeden Menschen, für den wir Verantwortung tragen, vollkommen in Christus darzustellen.


Fußnoten

  1. D.A. Carson, Systematic and Biblical Theology, in: New Dictionary of Biblical Theology (Hrsg. T. Desmond Alexander und Brian S. Rosner; Downers Grove: InterVarsity, 2000), S. 94. Charles H. H. Scobie gibt eine weitere Definition: „Biblische Theologie lässt sich definieren als das geordnete Studium des Verständnisses der Offenbarung Gottes, die in den kanonischen Schriften des Alten und Neuen Testaments enthalten ist“ (in: „The Challenge of Biblical Theology“, Tyndale Bulletin Nr. 42 1991, S. 36).
  2. Brian S. Rosner, Biblical Theology, in: New Dictionary of Biblical Theology, S. 5.
  3. Kevin J. Vanhoozer, Exegesis and Hermeneutics, in: New Dictionary of Biblical Theology, S. 56.
  4. Ebd., S. 56.
  5. Carson, Systematic and Biblical Theology, S. 100.
  6. Gerhard Hasel, Biblical Theology: Then, Now, and Tomorrow, Horizons of Biblical Theology 4 (1982), S. 66.
  7. Mehr über die folgende Debatte siehe Systematic and Biblical Theology, S. 101–102.
  8. Scobie, The Challenge of Biblical Theology, S. 50–51.
  9. Mehr zur Einführung in die Typologie: David L. Baker, Two Testaments, One Bible. IVP 1976, Kapitel 7.
  10. Walter Kaiser, Jr., Toward an Exegetical Theology: Biblical Exegesis for Preaching and Teaching. Grand Rapids: Baker 1981, S. 134–40.
  11. Richard N. Longenecker, Biblical Exegesis in the Apostolic Period, 2. Aufl., Grand Rapids: Eerdmans, 1999.
  12. Mehr zur Bedeutung einer christuszentrierten Verkündigung: Graeme Goldsworthy, Preaching the Whole Bible as Christian Scripture: The Application of Biblical Theology to Expository Preaching, Grand Rapids: Eerdmans 2000; Sidney Greidanus, Preaching Christ from the Old Testament: A Contemporary Hermeneutical Method, Grand Rapids: Eerdmans 1999; Edmund P. Clowney, Preaching Christ in All of Scripture, Wheaton: Crossway 2003.

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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