Predigen & Theologie

Hat sich die Verkündigung seit der Frühen Kirche verändert?

Von Peter Sanlon

Peter Sanlon ist Pastor der St. Mark’s Church, Tunbridge Wells, in England.
Artikel
03.02.2021

Die systematische Auslegung der Schrift spielt in meiner Vision des gewöhnlichen Predigtdienstes eine zentrale Rolle. Mit der Praktik durch ein Bibelbuch nach dem anderen mit meiner Gemeinde zu gehen, setze ich ein Handwerk und eine Tradition fort, die ihre Wurzeln im Pentateuch, in jüdischen Lehrmethoden und in der apostolischen Kirche haben. Es sprengte den Rahmen dieses Artikels, wenn ich zunächst die ersten Blütezeiten der Auslegungspredigt beleuchtete; stattdessen widmet sich dieser Artikel der Verkündigung der nachbiblischen Frühen Kirche. Wenn wir uns mit den Predigern der Frühen Kirche beschäftigen, haben wir es mit Predigtmeistern wie Ambrosius, Hieronymus, Gregor von Nazianz, Chrysostomos, Athanasius, Augustinus und Petrus Chrysologus zu tun. Doch wenn ich mir die Predigten dieser Fachmänner der Auslegungspredigt anschaue, scheinen ihre Predigten nicht dem zu entsprechen, was wir heute unter Auslegungspredigt verstehen. Wie kann die moderne Auslegungspredigt abhängig sein von der Verkündigung der Frühen Kirche, die uns oft so befremdlich vorkommt?

Gemeinsame Überzeugungen zwischen der antiken und der heutigen (Auslegungs-) Predigt

Anfangs ist es wichtig festzuhalten, welche Überzeugungen wir und die patristischen Prediger teilen. Ausleger von früher und heute verbindet der Glaube, dass die Schrift in allen ihren Aussagen wahr ist. Darüber hinaus teilen beide die Überzeugung, dass Gott selbst redet, wenn die Bibel gepredigt wird.

An vielen Stellen erklären die Kirchenväter, wie Tertullian, dass, was auch immer die Schrift lehrt, wahr ist.1 Augustinus erklärt: „Ich habe gelernt, diesen Respekt und diese Ehre nur den kanonischen Büchern der Schrift zu geben: Nur von diesen allein glaube ich fest entschlossen, dass das, was Autoren geschrieben haben, ohne jegliche Fehler ist.“ 2  Solche ausdrücklichen Bekenntnisse zur Zuverlässigkeit der Bibel sind wertvoll, um das patristische Schriftverständnis zu rekonstruieren. Mindestens genauso relevant sind die Implikationen, die sich aus dem Umgang der Kirchenväter mit der Bibel in ihren zahlreichen Schriften ableiten lassen. Der Kontext, in dem die Bibel hauptsächlich in der Frühen Kirche verwendet wurde, war die Verkündigung, und die Aneinanderreihung von Bibelzitaten zeigt sehr offensichtlich, dass die Prediger der Überzeugung waren, dass die Schrift wahr ist und Gott durch sie zu den Zuhörern redet. Wie Augustinus predigte: „Lasst uns die Schrift wie die Schrift behandeln; so wie wenn Gott selbst zu uns spricht.“3 Ohne diese Überzeugung gibt es nur wenig Grund, über dem Bibeltext in der Predigtvorbereitung zu brüten, wie die Kirchenväter es taten.

Warum klingen die Predigten der Frühen Kirche dann so anders als Predigten von modernen westlichen Predigern, die dieselbe Überzeugung über die Rolle der Schrift teilen? Patristische Predigten gebrauchten oft obskure Allegorien, vermuteten Bedeutungen in Zahlen und sprangen in der Bibel herum in einer willkürlichen Weise. Patristische Predigten können Reflektionen und Exkurse beinhalten, die weitab von dem Text sind, der eigentlich betrachtet wird. Ist die Idee, dass die moderne Auslegungspredigt auf solche antiken Predigten zurückgehen nur ein Wunschdenken?

Gemeinsamkeiten der Auslegungspredigt und der säkularen Kultur

Auslegungspredigt ist ein Handwerk, eine Kunst und eine pastorale Disziplin, die mit der säkularen Kultur im Allgemeinen und der säkularen Rhetorik insbesondere interagiert. Patristische Prediger (und zeitgenössische Prediger), die sich der Auslegungspredigt verpflichtet fühlen, haben radikal unterschiedliche Sichtweisen auf die säkulare Wissenschaft. Einige Prediger flechten Zitate von säkularen Autoren in ihre Auslegung mit ein. Zum Beispiel finden wir über hundert Zitate von Virgil in den noch vorhandenen Predigten von Ambrosius und er verwendete die Schriften des griechischen Arztes Galenos, um das erste Buch Mose zu verstehen. 

Tertullian verwarf säkulare Wissenschaft, weil sie schädlich für die Theologie ist. Dass jedoch seine Redeweise in den rhetorischen Techniken der säkularen Schulen geschmiedet wurde, erinnert uns daran, dass niemand sich völlig seinem Kontext entziehen kann.

Die Häufigkeit der Zitate säkularer Autoren ist der offensichtlichste Weg, den Einfluss der säkularen Wissenschaft auf die patristischen Predigten nachzuvollziehen. Auf einer tieferen Ebene war die säkulare Welt der Antike fasziniert von Worten – ihrer Bedeutung, ihrer Anordnung und Relevanz. Die Anhäufung der Bibelzitate und die Verwendung von klareren Bibelabschnitten, um unverständlichere Abschnitte zu interpretieren, waren Techniken, die Prediger von säkularen Schulen gelernt hatten, die sich mit Homer beschäftigten. 

Wie auch in der Reformationszeit formte der Bildungshintergrund der patristischen Prediger ihren Dienst in tiefgreifender Weise. Das erste Predigthandbuch wurde von Augustinus geschrieben. Es enthielt umfangreiche Teile, die darüber reflektierten, wie man am besten Ciceros Prinzipien der Rhetorik entsprechen könne. Augustinus hielt säkulare Einsichten über gute Kommunikation für hilfreich: „Warum sollten diejenigen, die die Wahrheit reden, so tun als seien sie dumm, trocken oder halbschlafend?“4 Abgesehen von Ciceros Empfehlung einiger Prinzipien der Rhetorik hielt Augustinus Gebet und das Hören guter Prediger für wichtiger.5

Viel von dem, was patristische Predigten ganz unterschiedlich zu modernen Predigten erscheinen lässt, rührt daher, dass in unserem Dienst der Auslegungspredigt wir und auch unsere Vorfahren (bewusst oder unbewusst) die besten vorhandenen säkularen Einsichten der Hermeneutik und Kommunikation verwenden. Prediger in der Antike glaubten, dass die Bibel als das göttliche Wort voller Wahrheit für die Zuhörer ist. Sie suchten nach Bedeutung in Zahlenmustern, weil die säkulare Kultur Schönheit, Wahrheit und Bedeutung in der geheimnisvollen Zahlenwelt sah. Wenn es auf Mathematik, überzeugende Reden und Philosophie zutraf, so dachten sie, dann ganz gewiss auch auf einen Text, der von Gott inspiriert ist. Der Kontext des säkularen Lernens formte die Ansätze der Prediger in der Antike. Das Gleiche galt für die Predigtpraxis. Einige Prediger schrieben ihre Predigten aus und lasen sie vor. Andere, wie Augustinus, verbrachten viel Zeit unter der Woche in dem Nachdenken über einen Abschnitt, und predigten dann ohne Manuskript. Viele Rhetorikschulen brachten ihren Schülern bei, Reden zu lesen und sie auswendig zu lernen. Quintilian, ein säkularer Redner, argumentierte, dass es eine oberflächliche und unerwachsene Art des öffentlichen Redens sei. Ob ein Prediger mit Quintilian übereinstimmte oder nicht, prägte seinen Umgang mit einem Predigtmanusskript. Wir begingen einen schwerwiegenden Fehler, unsere modernen Ansätze, die Bibel zu verstehen und zu predigen, gegenüber den antiken Predigern für überlegen zu halten. Es wäre außerdem falsch, die Tatsache zu übersehen, dass die moderne Auslegungspredigt auf die patristischen Predigten zurückgeht und grundlegende Überzeugungen teilt. 

Auslegungspredigt entwickelte sich im Laufe der Kirchengeschichte

Ein weiterer Grund dafür, dass die patristischen Predigten so außergewöhnlich erscheinen, ist, dass sie von Leuten aus ihrem eigenen kirchengeschichtlichen Kontext heraus gepredigt wurden. In der antiken Welt nutzten einige Prediger die Querverweise von Übersetzungen, die von Origenes in seiner Hexapla begonnen wurden. Augustinus hat damit gerungen, ob er Hieronymus` wissenschaftlichere Bibelübersetzung nutzen sollte oder weiterhin die Version gebrauchen würde, an die seine Gemeinde gewohnt war. Er wählte die weniger akkurate Übersetzung aus pastoraler Feinfühligkeit, während er langsam Hieronymus` Übersetzung in seine wissenschaftlichen Schriften integrierte. So wie die Kirchengeschichte voran schritt, so entwickelten sich Hilfsmittel und die Art der Auslegungspredigt weiter. Einer der offensichtlichsten Bereiche, auf den es zutrifft, ist die Heilsgeschichte. In der Frühen Kirche wussten Prediger, dass es Entwicklungen in der biblischen Geschichte gibt. Irenäus entwickelte eine Theologie der „Rekapitulation“ auf der Grundlage von Wiederholungen innerhalb der Heilsgeschichte, so wie der Baum aus 1. Mose 2 und der Baum, an dem Christus hing. Marcions häretische Verwerfung des Alten Testaments und Interaktion mit jüdischen Gelehrten führte dazu, dass viele Prediger über die Gemeinsamkeiten und die Einheit der beiden Testamente predigten. Augustinus` Schwerpunkte der Gnade in der pelagianischen Kontroverse brachte ihn dazu, den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium zu betonen.

All das – und das scheinbar allgegenwärtige Allegorisieren – waren frühe Versuche von Predigern, sich mit allen Schriftstellen zu beschäftigen, in einer Weise, die der Heilsgeschichte gerecht wird. Angesichts der vielen Entwicklungen in der Kirchengeschichte, die uns neue Wege geben, die Heilsgeschichte zu nuancieren und zu formulieren, ist es verständlich, dass die patristische Verkündigung in ihrer theologischen Interpretation uns oft sehr befremdlich vorkommt. Doch das eigentliche Anliegen dieser großen Prediger der ersten Jahrhunderte war, die Möglichkeiten der Einheit und Vielfalt innerhalb des biblischen Kanons zu skizzieren. – Bis heute ringen wir noch damit und haben unterschiedliche Auffassungen darüber. 

Schlussfolgerungen

Hat die Auslegungspredigt sich seit der Frühen Kirche verändert? Die Antwort ist Ja, insofern, dass Auslegungspredigt Schnittstellen mit der zeitgenössischen Kultur hat und sich im Laufe der Kirchengeschichte entwickelte. Doch wenn uns dies blind macht für die gemeinsamen Kernüberzeugungen zur Autorität der Schrift und die Leidenschaft, die Prediger antreibt sich des bestzugänglichen Materials aus der Kultur und der Theologie zu bedienen, um die Bibel treu zu predigen, entehrten wir nicht nur die Heiligen, die vor uns hart gearbeitet haben, sondern enterbten wir uns auch der Schätze, die uns helfen, unsere Verkündigung zu verbessern – die Verkündigung der Frühen Kirche.

Peter Sanlon ist Pastor der St. Mark’s Church, Tunbridge Wells, in England und der Autor von mehreren englischsprachigen Büchern, u.a. „Augustine’s Theology of Preaching”, „Simply God” und hat mehrere Artikel im „Handbook of the Latin Patristic Sermon” verfasst. Der Artikel erschien zuerst bei 9Marks. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.


  1. Tertullian, Über den Leib Christi, 6.
  2. Augustinus, Briefe 82.3.
  3. Augustinus, Predigten 162C.15.
  4. Augustinus, Von der christlichen Lehre, 4.3.
  5. Augustinus, Von der christlichen Lehre, 4.32.

Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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