Gemeinsames Leben

Was ist eine erfolgreiche Gemeinde?

Von Mark Dever

Mark Dever ist der leitende Pastor der Capitol Hill Baptist Church in Washington, D. C. und der Vorsitzende von 9Marks.
Artikel
03.02.2021

Der Autor und Theologe David Wells berichtet 1994 in seinem Buch God in the Wasteland, dass „Studenten [am theologischen Seminar] mit dem aktuellen Zustand der Gemeinde unzufrieden sind“. Sie glauben, dass sie ihre Vision verloren hat und sie wollen mehr von der Gemeinde, als sie bekommen.“ Doch Wells würde zustimmen, dass Unzufriedenheit allein nicht ausreicht. Wir brauchen mehr als das. Wir müssen im positiven Sinne neu entdecken, was eine Gemeinde sein soll. Was sind Wesen und Kern der Gemeinde? Was soll die Gemeinde ausmachen und kennzeichnen?

Die gesunde Gemeinde im Laufe der Kirchengeschichte

Christen sprechen schon lange von den „Merkmalen“ oder „Kennzeichen“ der Gemeinde. Eine förmliche, theologische Debatte um das Thema Gemeinde begann allerdings erst mit der Reformation. Vor dem 16. Jahrhundert wurde die Gemeinde eher vorausgesetzt, als weiter erörtert. Sie wurde als Gnadenmittel verstanden, als eine Realität, die der restlichen Theologie zugrunde liegt. Als im 16. Jahrhundert jedoch eine radikale Kritik durch Martin Luther und andere laut wurde, war die Debatte um das Wesen der Gemeinde selbst unvermeidbar. Der Theologe Edmund Clowney erläutert: „Die Reformation machte das Evangelium, nicht die Institution Kirche, zum Prüfstein der wahren Gemeinde“ (Clowney, The Church, 1995, S. 101).

Melanchthon verfasste 1530 das Augsburger Bekenntnis, das im Artikel 7 erklärt, dass die Gemeinde

„die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“

Thomas Cranmer verfasste 1553 die 42 Artikel der anglikanischen Kirche, in denen er schreibt:

„Die sichtbare Kirche Christi ist eine Versammlung gläubiger Menschen, in welcher das Wort Gottes rein gepredigt wird und die Sakramente nach Christi Einsetzung, in allem, was von ihnen notwendig gefordert wird, recht verwaltet werden.“

Johannes Calvin schreibt in seiner Institutio:

„Wo also Gottes Wort rein gepredigt und gehört, und die Sakramente nach Christi Einsetzung ausgeteilt werden, da ist ohne Zweifel eine Kirche Gottes.“

Das Niederländische Bekenntnis von 1561 erklärt in Artikel 29:

„Die Kennzeichen, durch welche die wahre Kirche sich von jenen (den falschen Kirchen, Anm. der Red.) unterscheidet, sind diese: wenn sich die Kirche der reinen Predigt des Evangeliums und der lauteren Verwaltung der Sakramente nach der Einsetzung Christi bedient; wenn sie sich der Kirchenzucht recht zur Besserung der Fehler bedient; wenn sie schließlich (damit wir alles mit einem Wort zusammenfassen) alles nach der Vorschrift des Wortes Gottes tut und alles, was ihm widerstreitet, von sich weist und Christus als einziges Haupt anerkennt.“

Was die Gemeinde erschafft und erhält

Wir können in diesen beiden Merkmalen – der Verkündigung des Evangeliums und der Austeilung der Sakramente – erkennen, was die Gemeinde erschafft und was sie erhält – die Quelle der Wahrheit Gottes und das liebliche Gefäß, indem sie aufbewahrt und gezeigt wird. Die Gemeinde wird durch die richtige Predigt des Wortes geschaffen und durch die richtige Austeilung von Taufe und Abendmahl eingegrenzt und gekennzeichnet (wobei wir bei diesem zweiten Merkmal voraussetzen, dass in der Gemeinde Gemeindezucht ausgeübt wird).

Natürlich ist keine Gemeinde vollkommen. Doch Gott sei Dank sind viele unvollkommene Gemeinden gesund. Dennoch fürchte ich, dass viele andere Gemeinden es nicht sind – selbst unter den Gemeinden, die sich zur wahren Gottheit Christi und zur vollkommenen Autorität der Schrift bekennen. Die neun Merkmale stellen daher einen Entwurf dar, wie die biblische Verkündigung und Gemeindeleitung in einer Zeit, in der allzu viele Gemeinden in ein bloßes Namenschristentum voller Pragmatismus und Trivialitäten gerutscht sind, zurückgewonnen werden können. Das erste Ziel viel zu vieler Gemeinden ist nicht mehr, Gott zu verherrlichen, sondern einfach zahlenmäßig zu wachsen (wobei sie davon ausgehen, dass dieses Ziel, wenn sie es erreichen, Gott verherrlichen muss).

In einer Gesellschaft, in welcher der christliche Glaube in breiten Kreisen zunehmend abgelehnt wird und Evangelisation häufig als von Natur aus intolerant gesehen oder sogar offiziell als Hetze eingestuft wird, spüren wir, wie sich unsere Welt verändert hat. Die Kultur, der wir uns anpassen wollen, um relevant für unsere Mitmenschen zu sein, ist vielerorts so untrennbar mit einer Feindseligkeit gegenüber dem Evangelium verbunden, dass Anpassung hieße, das Evangelium aufzugeben. In solchen Umständen müssen wir neu auf die Bibel hören und überdenken, was einen erfolgreichen Dienst ausmacht: nämlich nicht, dass in jedem Fall sofort Früchte erkennbar sein müssen, sondern dass wir nachweislich Gottes Wort treu bleiben.

Wir brauchen ein neues Gemeindemodell

Wir brauchen ein neues Gemeindemodell. In Wirklichkeit ist das Modell, das wir brauchen, ein altes. Wir brauchen Gemeinden, in denen Erfolg nicht in erster Linie an den Ergebnissen, die sichtbar werden, gemessen wird, sondern an der beharrlichen Treue zur Bibel. Dieses neue (alte) Gemeindemodell konzentriert sich auf zwei Grundbedürfnisse in unseren Gemeinden: darauf, dass die Botschaft gepredigt wird und dass Jünger in der Nachfolge angeleitet werden. Die ersten fünf „Merkmale einer gesunden Gemeinde“ (Auslegungspredigten, biblische Theologie, ein biblisches Verständnis des Evangeliums, ein biblisches Verständnis der Bekehrung, ein biblisches Verständnis von Evangelisation) spiegeln allesamt das Anliegen wieder, das Wort Gottes rein zu predigen. Die letzten vier Merkmale (Gemeindemitgliedschaft, Gemeindezucht, Jüngerschaft und geistliches Wachstum, biblische Gemeindeleitung) befassen sich mit der Frage, wie die Grenzen und Kennzeichen der christlichen Identität richtig anzuwenden sind, d.h. wie man Jünger in der Nachfolge anleitet.

Ziel und Zweck all dessen ist, dass Gott verherrlicht wird, indem wir ihn bekannt machen. Im Laufe der Geschichte zeigt sich immer wieder, dass Gott sich den Menschen zu erkennen geben will (z.B. 2Mo 7,55Mo 4,34–35Ps 22,22–23Jes 49,22–23Hes 20,34–38Joh 17,26). Er hat die Welt erschaffen und alles, was er tut, tut er zu seiner Ehre. Und es ist gut und richtig, dass er so handelt. Mark Ross hat es folgendermaßen ausgedrückt:

„Wir sind eines der wichtigsten Beweisstücke Gottes. […] Paulus großes Anliegen [in Eph 4,1–16] für die Gemeinde ist, dass sie die Herrlichkeit Gottes sichtbar macht und zeigt. Dadurch wird Gottes Charakter gegen all die Verleumdung der dämonischen Welt und gegen die üble Nachrede, dass Gott es nicht wert ist, dass man für ihn lebt, verteidigt […]. Gott hat seiner Gemeinde die Herrlichkeit seines eigenen Namens anvertraut.“

Alle Leser dieser Worte – ob Gemeindeleiter oder nicht – sind im Bilde Gottes geschaffen. Wir sollen ein lebendiges Bild vom moralischen Wesen und gerechten Charakter Gottes sein, das überall im Universum für alle zu sehen ist – insbesondere dadurch, dass wir durch Christus eins mit Gott sind. Das ist es also, wozu Gott uns beruft und weshalb er es tut. Er beruft uns dazu, mit ihm verbunden zu sein, und dazu, in unseren Gemeinden miteinander verbunden zu sein – nicht zu unserer eigenen Ehre, sondern zu seiner Ehre.


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