Gemeinsames Leben

Warum unsere Jüngerschaft so mangelhaft ist (Teil 2)

Von Barry Cooper

Barry Cooper ist Ältester der Christ Community Church in Daytona Beach, Florida (USA), und arbeitet als Supervising Producer bei Ligonier Ministries. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Drehbücher, einschließlich Can I Really Trust The Bible? und Puritan.
Artikel
01.05.2022

Dieser Artikel ist Teil einer Artikelreihe zum Thema „Jüngerschaft“ und beleuchtet verschiedene Gründe, warum in unseren Gemeinden keine Jüngerschaft stattfindet.


Das letzte Mal haben wir uns angeschaut, was die Bibel über Jüngerschaft sagt. Wir haben uns die folgende Frage gestellt: „Wieso tun wir nicht das, mit dem Gott uns beauftragt hat?“ Meiner Ansicht nach ist „billige Gnade“ einer der Hauptgründe dafür.

Lass mich noch zwei weitere Gründe dafür aufführen, warum unsere Jüngerschaft so mangelhaft ist.

1. Wir sind als Gemeinde „Seeker-sensitive“ und nicht „Believer-sensitive“

Erstens sind wir als Gemeinden Seeker-sensitive (d.h. man orientiert sich dabei an Menschen, die auf der Suche sind, Anm. d. Red.) und nicht Believer-sensitive (d.h. man geht primär auf das ein, was Christen brauchen, Anm. d. Red.). Keine Gemeinde hat ihre Gottesdienste besser auf suchende Menschen (engl. seeker) ausgelegt als Willow Creek in Chicago. Sie haben vor 30 Jahren damit begonnen, ihre Gottesdienste speziell auf diese Menschengruppe zuzuschneiden.

Im Jahr 2008 veröffentlichten sie die Ergebnisse einer etwa vier Jahre lang durchgeführten Umfrage, die herausfinden sollte, wie wirksam sie als Gemeinde dem Auftrag Jesu nachgekommen waren und Menschen zu Jüngern gemacht hatten (Mt. 28,19).

Letztendlich stellten sie ihren Gottesdienststil um und konzentrierten sich fortan vorrangig auf Christen, die in ihren Glauben wachsen wollten. Im Zentrum standen nun nicht mehr die Suchenden, sondern die bereits Gläubigen.

Willow Creek hat (auf die schwere Art) gelernt, dass wir nicht zwei Herren dienen können. Wenn wir uns immer nur darum bemühen, den Suchenden zu gefallen, wird das zwangsläufig auf Kosten von fruchtbarer Jüngerschaft geschehen. Wir werden als Gemeinde keine feste Nahrung zu uns nehmen können und unser Wachstum wird dadurch geschwächt werden.

Der Verfasser des Hebräerbriefes ermahnt jene Gläubige, die nie über die „elementaren Wahrheiten des Wortes Gottes“ hinausgegangen sind:

„Denn obgleich ihr der Zeit nach Lehrer sein solltet, habt ihr es wieder nötig, dass man euch lehrt, was die Anfangsgründe der Aussprüche Gottes sind; und ihr seid solche geworden, die Milch nötig haben und nicht feste Speise. Wer nämlich noch Milch genießt, der ist unerfahren im Wort der Gerechtigkeit; denn er ist ein Unmündiger. Die feste Speise aber ist für die Gereiften, deren Sinne durch Übung geschult sind zur Unterscheidung des Guten und des Bösen“ (Hebr 5,12–14).

Ich möchte damit nicht sagen, dass es keinen Platz für einzelne Veranstaltungen gibt, die sich auf Außenstehende konzentrieren, wie zum Beispiel die Weihnachtsgottesdienste. Aber wenn das jede Woche unser grundsätzlicher Ansatz sein sollte, werden Christen die tieferen Wahrheiten über Gott nicht hören, ihre Jüngerschaft wird oberflächlich bleiben und infolgedessen werden sie praktisch nicht in der Lage sein, andere zu Jüngern zu machen.

Wir müssen keine Angst davor haben, dass unsere Gemeinden Suchende nicht mehr ansprechen werden, nur weil der Schwerpunkt auf dem Wachstum des Gläubigen liegt. Wir predigen schließlich immer noch das Evangelium. Und genau das Evangelium, das die Gläubigen erhält und ihnen Wachstum schenkt, ist das gleiche Evangelium, mit dem alles bei ihnen begonnen hat.

Infolgedessen müssen wir zum Wohle der Gläubigen und Suchenden jede Woche das Evangelium predigen – in jedem Gottesdienst, unabhängig von unserem Bibeltext. Jesus sprach von der ganzen Schrift als Zeugnis für ihn (Johannes 5,39). Selbst wenn wir uns durch 3. Mose kämpfen, sollten wir so predigen, wie Jesus es getan hat: Mit dem Hinweis auf die Erlösung, die in ihm zu finden ist.

Wenn wir darauf fixiert sind, nur die Menschen anzusprechen, die auf der Suche sind, besteht natürlich die Gefahr, dass wir sowieso nie das 3. Buch Mose predigen werden. Oder irgendeinen anderen Teil der Schrift, von dem wir glauben, er würde Ahnungslose nur abschrecken. Und das ist nicht gut. In 2. Timotheus 3,16–17 werden wir erinnert: „Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Belehrung, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes ganz zubereitet sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet.“

Mit anderen Worten: Wir brauchen die ganze Schrift, um andere zu Jüngern zu machen. Die Qualität unserer Jüngerschaft wird stark darunter leiden, wenn wir Teile der Bibel weglassen, weil wir annehmen, diese Texte könnten Suchende vertreiben.

2. Es gibt zu wenige Bekehrte in unseren Gemeinden

Das bedeutet, dass es in unseren Gemeinden weniger Christen gibt, und somit auch weniger Menschen, die einander bei der Jüngerschaft unterstützen können. Zweifellos sind die Gründe dafür komplex, doch hier sind meine Gedanken dazu:

Erstens war es früher so, dass man Christ sein musste, um ein Mitglied des Leibes Christi zu werden. So lehrt es auch das Neue Testament.

Doch heute kann man in vielen Gemeinden – sogar in einigen großen, bekannten evangelikalen Gemeinden – schon Mitglied werden, indem man einfach ein Kästchen auf einem Flyer ankreuzt. Es wird sich kaum die Mühe gemacht, etwas über den geistlichen Zustand dieser Person herauszufinden, um so echte Nachfolge festzustellen. Wie können wir erwarten, dass Menschen, die selbst keine Jünger sind, andere zu Jüngern machen?

Ein zweiter Grund liegt darin, dass kaum noch Gemeindezucht geübt wird.

In neutestamentlichen Gemeinden, oder zumindest in den gehorsamen neutestamentlichen Gemeinden, war das der Standard. In 1. Korinther 5 sagt Paulus, dass wir reuelose Sünder aus der Mitgliedschaft der Gemeinde ausschließen sollen.

Den Befehl von Paulus nicht zu befolgen ist geistlich tödlich. Es resultiert in Mitgliedern, die keine Jünger sind. Sie können sogar Anzeichen dafür zeigen, dass sie aktiv gegen Christus sind, ganz zur Schande des Herrn und seines Evangeliums. Auch hier können wir nicht erwarten, dass Menschen, die selbst keine Jünger sind, andere in der Jüngerschaft leiten.

Warum aber haben wir diese beiden Dinge so vernachlässigt?

Ich denke, dafür gibt es mehrere Gründe, doch das ist einer der Hauptgründe: Zahlen sind für uns so wichtig geworden, dass wir alles dafür tun, um sie wachsen zu sehen. Wir sind verzweifelt daran interessiert, dass Menschen Mitglieder werden, und tun alles dafür, dass sie bleiben. Wir haben die Kosten gesenkt, in der Hoffnung, dass mehr Menschen das Produkt kaufen werden.

Was passiert, wenn wir uns den biblischen Praktiken der Gemeindemitgliedschaft und Gemeindezucht entziehen? Wir bekommen eine Gemeindekultur, die sich immer weiter weg von Christus entfernt und kein Salz oder Licht mehr ist. Eine Kultur der Jüngerschaft in unseren Gemeinden ist unmöglich, wenn so viele unserer Mitglieder selbst keine Jünger sind. Und der Einfluss dieser nicht-disziplinierten Gemeindemitglieder auf diejenigen, die wirklich danach streben, Christus nachzufolgen, wird keine guten Folgen haben.

Anders ausgedrückt (und inspiriert von Mark Devers Analogie) war es früher so, dass die Vordertür der Gemeinde gut geschützt wurde, während die Hintertür offenstand. Das bedeutet, dass die Gemeinden ganz genau darauf achteten, wen sie hineinließen, und fleißig diejenigen zurechtwiesen, deren Leben den Prinzipien der Gemeinde widersprach. Heutzutage lassen wir die Vordertür weit offen schwingen und klemmen die Hintertür fest zu, weil wir so sehr Angst davor haben, dass jemand geht.

Wenn wir so handeln, können wir als Resultat leider nur Gemeinden erwarten, in denen es keine Jüngerschaft gibt.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.