Leitung durch Älteste
Charisma wird überschätzt
„Alle Menschen wurden gleich erschaffen“, heißt es in der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776. Gleichzeitig gibt es keine zwei Menschen, die genau gleich geschaffen wurden. Einerseits wurden alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes erschaffen und jeder Gläubige erfreut sich gleichermaßen des Standes als Gottes Adoptivkind in Christus. Andererseits hat unser souveräner Schöpfer bei der Gestaltung unserer Individualität keine Standardschablone verwendet.
Wir müssen nicht lange auf dieser Welt leben, bis wir uns schmerzlich der schieren „Ungerechtigkeit” der göttlich verordneten Differenzen zwischen Menschen bewusst werden. Bereits im jungen Alter beneiden wir andere um ihre Stärke, ihre Größe, ihre Schnelligkeit oder um ihr Aussehen. Bald beginnt uns zu dämmern, dass wir nicht über dieselbe Scharfsinnigkeit, dieselbe Geselligkeit, denselben Witz oder dasselbe Charisma verfügen wie Gleichaltrige.
Mit der Zeit beeinflussen diese Beobachtungen schließlich unsere Selbsteinschätzung bezüglich unserer Fähigkeiten als Pastoren. Wir bemerken, dass Gott uns nicht mit der gewinnendsten Persönlichkeit ausgestattet hat. Dann beginnen wir zu sehen, dass dies die Effektivität unseres Dienstes als Unterhirten der Herde Gottes beeinträchtigt. Obwohl wir das nicht möchten – es ist so und wird auch so bleiben. Diese Erkenntnis versetzt uns „Durchschnittstypen“ einen Stich, der dauerhaft schmerzt.
Zu dieser unangenehmen Einsicht gelangst du ganz automatisch, indem du dich selbst mit anderen, begabteren Pastoren vergleichst. Es kann sich aber auch regelrecht wie ein Schlag ins Gesicht anfühlen, wenn Mitglieder deiner Gemeinde dir auf unterschiedliche Weise klar machen, dass deine Persönlichkeit – verglichen mit der von anderen Pastoren, von denen sie gehört haben, oder die sie kennen, oder von denen sie sich einbilden, sie zu kennen – nicht besonders gut abschneidet. Sie sagen dir entweder durch die Blume oder auch ganz unverblümt, dass die Gemeinde sich besser entwickeln würde, wenn deine Persönlichkeit etwas mehr Charisma hätte. Obwohl es hart ist, dies zu hören, weißt du, dass diese Kritik nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Manchmal findest du dich sogar selbst ziemlich langweilig.
Doch hier kommt nun eine gute Nachricht für dich, den unspektakulären Pastor: „Charismatische Ausstrahlung“ gehört nicht zur Liste der pastoralen Qualifikationen in 1. Timotheus 3 und Titus 1. Was in diesen Abschnitten groß geschrieben wird, ist der Charakter, nicht das Charisma; Treue, nicht Anziehungskraft; Liebe zu Gottes Volk, nicht eine faszinierende Persönlichkeit. Ja, du sollst das Vertrauen deiner Gemeinde gewinnen. Sie sollen wissen, dass du für sie da bist und sie unentwegt liebst. Nicht notwendig hingegen ist, dass sie dich charmant, witzig, mutig oder als Persönlichkeit besonders überzeugend finden. Es ist nicht so wichtig, ob sie Zeit mit dir verbringen wollen. Von größter Wichtigkeit ist, dass sie wissen, dass du Gott liebst und dass du sie mit einem warmherzigen Eifer dazu einlädst, gemeinsam mit dir Jesus bis in die Herrlichkeit zu folgen (Kol 1,28–29).
Wie also sollten wir unspektakulären Pastoren mit den hinderlichen Effekten unserer prosaischen Art umgehen?
Zunächst sollten wir uns freuen!
Freue dich, „durchschnittlicher“ Pastor! Gott hat dich souverän mit einer bestimmten Absicht erschaffen und mit allen notwendigen Gaben ausgerüstet, die du für den Dienst brauchst, den er dir aufträgt. Ob ein Mann mit mehr Charisma die dir anvertraute Herde besser führen könnte? Nur, wenn der Oberste Hirte ihm den Auftrag dazu geben würde. Wenn Christus hingegen dir eine ganz bestimmte Gemeinde anvertraut hat, dann kannst du in seinen souveränen Absichten ruhen und sie treu mit all der Liebe und den Fähigkeiten führen, die Gott dir geschenkt hat. Weigere dich, neidisch auf den Erfolg eines Hirten mit mehr Charisma zu blicken. Verbanne die Eifersucht. Konzentriere dich auf deine Stellung in Christus und erfülle die Aufgabe, die er dir anvertraut hat.
Zweitens müssen wir anerkennen, dass Pastoren mit Charisma Anfechtungen erleben, mit denen wir „durchschnittlichen“ Pastoren selten konfrontiert sind.
Während wir dazu neigen, mit Neid oder Selbstmitleid zu kämpfen, haben die starken Persönlichkeiten eher mit stolzer Unabhängigkeit und einer herablassenden Haltung zu tun. Während sie eine Reihe faszinierter Follower um sich scharen, lassen sie in ihrem Gefolge tendenziell mehr verletzte Schäfchen zurück. Diese Beobachtungen mögen nur ein schwacher Trost für diejenigen sein, die gerne die Last des Charisma auf sich nehmen würden. Trotzdem bleibt es eine Gnade und damit auch ein Grund zur Freude, wenn wir vor bestimmten Versuchungen verschont bleiben.
Drittens sollten wir uns weigern, uns zufrieden zu geben.
Wir weniger charismatischen Typen dürfen uns nicht mit unserer eher ausgeglichenen Persönlichkeit abfinden. Achte auf dein Herz und analysiere beständig, ob nicht irgendein Aspekt deiner „langweiligen“ Persönlichkeit in Faulheit, Egoismus, Undankbarkeit, Menschenfurcht, Selbstmitleid, mangelnder Liebe zu anderen oder Ähnlichem wurzelt. Wenn wir Sünde aktiv ausrotten und Christus ähnlicher werden, wird sich unsere Persönlichkeit sichtlich verbessern. Geben wir uns nicht zufrieden. Lasst uns weiter wachsen.
Viertens: Wir tun gut daran, zu lernen, der Kraft des Wortes und des Geistes zu vertrauen, um zu erreichen, was eine charismatische Persönlichkeit niemals erreichen könnte.
Es gibt einige außergewöhnlich begabte Pastoren, deren Persönlichkeit ähnlich wirkt wie das Licht einer Lampe auf Mücken in einer Sommernacht. Aber bedenke: Obwohl ihre gewinnende Art mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen und mehr Türen öffnen kann als wir es jemals erleben werden, ist ihre Begabung trotzdem nicht in der Lage, die Heiligung der Herde Christi zu bewirken. Die Gemeinde wird allein durch das Wort und den Geist geformt und geläutert. Predige also beharrlich und treu das Wort. Verlasse dich auf den Geist, der Seelen rettet und heiligt, und erinnere dich an McCheynes Maxime: „Gott segnet weniger großes Talent als vielmehr große Ähnlichkeit mit Jesus. Ein heiliger Pastor ist eine gewaltige Waffe in der Hand Gottes“ (R.M. McCheyne an Dan Edwards, 2. Oktober 1840).
„Durchschnittliche“ Pastoren haben das einzigartige Privileg, in der Wahrheit zu baden, dass „Gott das Törichte in der Welt erwählt [hat], um das Starke zuschanden zu machen; und das Unedle der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt, … damit sich vor ihm kein Fleisch rühme“ (1Kor 1,27–29). Wir können uns in einzigartiger Weise an der Wahrheit erfreuen, dass wir den Schatz des Evangeliums „in irdenen Gefäßen“ aufbewahren, um zu zeigen, dass „die überragende Kraft von Gott sei und nicht von uns“ (2Kor 4,7). Das ist unsere Herrlichkeit: zu sehen, wie Gott seine überragende Kraft in und durch deinen Dienst wirkt, trotz – oder sogar wegen – der Schwäche unserer irdenen Gefäße.
Der Geist benutzt gewöhnliche Mittel, um aus Gnade außergewöhnliche Werke zu vollbringen, und Christus benutzt gewöhnliche Verwalter dieser Gnade, um die Reichweite seines Reiches zu vergrößern. So etwas kommt niemals durch die Kraft der eigenen Persönlichkeit zustande. Niemals. Es wird einzig und allein durch die Macht des lebendigen Gottes bewirkt, der Seelen rettet und verwandelt. Vor seinem Thron und in seiner herrlichen Gegenwart werden wir uns auf ewig nur Seiner rühmen.
Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.