Mitgliedschaft & Gemeindezucht

Nicht nur „in die Gemeinde gehen“, sondern Gemeinde sein

Von Greg Gilbert

Greg Gilbert ist der leitende Pastor der Third Avenue Baptist Church in Louisville, Kentucky (USA).
Artikel
01.05.2022

Wenn es dir so geht wie den meisten Pastoren, dann sind Gemeindemitglieder, die ständig gegen die Einheit der Gemeinde arbeiten, so ungefähr das letzte, was du dir wünschst. Welche Verantwortung in der Gemeinde sie auch immer tragen, welche Gruppen sie auch immer anleiten, welche Freundschaften sie auch immer pflegen, ständig reizen sie andere zur Unzufriedenheit, zum Jammern und sogar zum Streit.

Vielleicht überrascht es dich, wenn ich sage, dass der Hebräerbrief die Gemeindemitglieder sogar dazu aufruft, sich in der Gemeinde ständig gegenseitig zu reizen – aber zum Guten!

In unserer Gemeinde in Louisville (Kentucky, USA) erinnern die anderen Ältesten und ich unsere Gemeinde oft an diese Anweisungen im Hebräerbrief. Wir sagen ihnen Folgendes:

Etwas zum Kontext

Der größte Teil des Hebräerbriefes verherrlicht in einer Art theologischen Abhandlung die Person und das Werk Jesu Christi. Über neun Kapitel hinweg betrachtet der Autor ausführlich das alttestamentliche Opfer- und Priestersystem und erklärt, wie all das durch Jesu Leben und Tod erfüllt wurde. Im zehnten Kapitel bezieht der Autor nun all dies passgenau auf das Leben seiner Leser. „Im Licht all dieser Dinge“, sagt er ihnen, „sollt ihr auf eine bestimmte Weise leben“.

Etwas zur Exegese

Hebräer 10,19–25 ist das Herzstück dieser Ermahnung. Der Autor fordert hier seine Leser zu drei Dingen auf: Erstens sollen sie sich Gott nahen. Da Jesus ihnen durch seinen Tod am Kreuz Zugang zum Thron Gottes verschafft hat, sollen sie Gott nicht mit Furcht und Zittern, sondern mit völligem und freudigem Vertrauen anbeten. Zweitens sollen sie an ihrem Bekenntnis festhalten, nicht zurückschrecken oder sich entmutigen lassen, sondern glauben, vertrauen und dadurch ihre Seelen retten. Mit diesen beiden Ermahnungen ruft der Autor die Christen dazu auf, ihre Herzen, ihren Verstand und ihre Seelen zu hüten. Aber dann folgt noch eine dritte Ermahnung: Er fordert sie dazu auf, von sich selbst wegzuschauen und die Aufmerksamkeit auf ihre Brüder und Schwestern in Christus zu richten – auf die Gemeinde.

Der Autor schreibt in den Versen 24 und 25: „Und lasst uns aufeinander achtgeben, damit wir uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken, indem wir unsere eigene Versammlung nicht verlassen, wie es einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das umso mehr, als ihr den Tag herannahen seht!“

Weil Jesus all das getan hat, und weil er all das ist, was vorher beschrieben wurde, sollen Christen einander zu Liebe und guten Werken anspornen. Aber wie soll das geschehen? Mit welchen Mitteln können sich Christen gegenseitig zum Guten und zur Heiligung anspornen? Im Text selbst werden zwei Mittel beschrieben: indem wir unsere eigenen Versammlungen nicht verlassen, und indem wir uns gegenseitig ermahnen.

Nun ist der Satz „unsere eigene Versammlung nicht verlassen“ vielleicht die deutlichste Aussage der Bibel über die Verpflichtung eines Christen zum Besuch seiner Ortsgemeinde. Wenn wir Teil des Leibes Christi sind, dann sollen, ja müssen wir uns einer Ortsgemeinde anschließen, in der wir unser Leben in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen führen. Der Vers könnte kaum deutlicher sein. Aber beachte, dass das Gebot, die Versammlung nicht zu verlassen, nicht für sich allein steht. Es ist eigentlich ein Nebensatz, der an den Hauptsatz des Verses angehängt ist. Das Gebot, sich zu versammeln, wird als Mittel zu einem anderen Zweck dargestellt. Christen sollen sich versammeln, um sich gegenseitig zur Liebe und zu guten Werken anzuspornen.

Deine Anwesenheit zählt

Wir stellen also fest: Die Mindestanforderung an einen Christen ist die Teilnahme an den Versammlungen. Das ist keine Option. Der Autor des Hebräerbriefs – also der Heilige Geist selbst – befiehlt den Christen, dabei zu sein, wenn die Gläubigen, zu denen sie gehören, sich versammeln.

Ganz praktisch bedeutet das, dass wir vielleicht unsere Zeitpläne umstellen müssen, um Zeit für die Versammlung der Heiligen einzuräumen. Vielleicht müssen wir unsere Arbeitszeiten verschieben. Vielleicht müssen die Hausaufgaben zu einem anderen Zeitpunkt gemacht werden. Vielleicht müssen unsere Berichte etwas früher oder später eingereicht werden. Die meisten Gemeinden versammeln sich nicht mehr als zwei oder drei Stunden pro Woche, womit immer noch etwa 145 Stunden übrig bleiben, um die anderen Dinge zu erledigen. Nach dem Hebräerbrief sollte das Ermahnen und Anspornen anderer Gläubiger ganz oben auf der Prioritätenliste eines jeden Christen stehen – und dazu muss man an den Versammlungen der Gemeinde teilnehmen.

Aber nicht nur deine Anwesenheit

Doch der Autor des Hebräerbriefs ruft zu mehr als lediglich zum Besuch der Gemeindeversammlungen auf. Oftmals behandeln Christen ihren Gottesdienstbesuch als einen weiteren Punkt auf ihrer „christlichen To-Do-Liste“. Sie besuchen einen Gottesdienst, sitzen still und unbemerkt im hinteren Teil des Raums, hören halbherzig der Predigt zu, schleichen sich während des letzten Liedes hinaus, ohne mit jemandem zu sprechen, und haken in Gedanken ihren Punkt auf der Liste für diese Woche ab: „Gemeinde besucht. Hebräer 10,25 erfüllt“. Aber das ist ganz und gar nicht das, was der Autor des Hebräerbriefs hier im Sinn hat. Er sagt nicht einfach: „Geht zum Gottesdienst“. Vielmehr setzt er den Besuch der Gemeindeversammlungen ganz bewusst in Verbindung mit dem Kennen, Lieben und Ermahnen der anderen Gläubigen. Es besteht ein ganz direkter Zusammenhang damit, dass man einander zu Liebe und guten Taten anspornen soll.

Die Versammlung einer Ortsgemeinde ist bei weitem nicht nur das Zusammenkommen einzelner Individuen zum Hören des Wortes Gottes – obwohl es sicherlich in ganz entscheidendem Maß darum geht. Aber es geht auch darum, das Leben mit anderen Gläubigen zu teilen, die einander versprochen haben, sich gegenseitig als Christen zu unterstützen und zu ermutigen. In den Versammlungen der Gemeinde beten wir füreinander, weinen und freuen uns miteinander, tragen gegenseitig unsere Lasten und Sorgen, hören gemeinsam das Wort Gottes und arbeiten gemeinsam daran, es auf unser Leben anzuwenden. Kurz gesagt, die Versammlung der Gemeinde ist die wichtigste Gelegenheit für Gläubige, einander zur Liebe und zu guten Werken anzuspornen.

Pläne schmieden und Anreize setzen

Beachten wir zwei weitere Punkte in diesem Text. Erstens sagt der Autor des Hebräerbriefs, dass wir „aufeinander achtgeben [sollen], damit wir uns gegenseitig anspornen zur Liebe und zu guten Werken“. Mit anderen Worten: Er fordert uns auf, Pläne zu schmieden und sich etwas ausdenken, wie wir unsere Brüder und Schwestern zu guten Werken anregen können. Das ist etwas, das er schlicht und einfach nicht tun kann, wenn sein Leben nicht eng mit ihren verflochten ist. Wie könnte ein Christ etwas zum Wohle seiner Glaubensgeschwister tun, wenn er sie gar nicht kennt?

Beachte zweitens das Wort „anspornen“, das auch mit „anreizen“ übersetzt werden kann. Die Anwesenheit einer Person im Gemeinde-Leib sollte eine sichtbare Wirkung auf andere haben, und zwar eine anspornende oder anreizende Wirkung: im Leben der Menschen um sie herum beginnen Liebe und gute Taten zu sprudeln!

Kurz gesagt, lieber Pastor, wir wollen unsere Gemeindemitglieder dazu ermutigen, dass sie Pläne schmieden und andere anreizen – und zwar zum Guten!

Ein anschauliches Beispiel

Vergangenen Sommer startete ich ein großes Projekt: ich begann meine Vorderveranda und den Gehweg mit Schieferfliesen zu pflastern. Unter einem Baum an der Seite hatte ich ein blaues Kühlgefäß mit Wasser stehen, in welchem ich die schmutzigen Fliesen abwusch, nachdem ich sie auf die richtige Größe geschnitten hatte. Nach einer Weile bemerkte ich, dass der ganze Schlamm, den ich von den Fliesen abwusch, auf den Boden des Kühlgefäßes sank, so dass oben klares Wasser und unten eine dicke Schlammschicht zurückblieb. Was musste ich tun, um den Schlamm vom Boden des Kühlgefäßes aufzurühren, damit er durch das Wasser wirbelte? Zum Kühlgefäß gehen und es mit dem Knie anstoßen? Das würde nicht ausreichen. Das Wasser würde sich ein bisschen bewegen, aber der Schlamm würde am Boden bleiben. Nein, um den Schlamm wirklich aufzurühren müsste ich mit den Händen ins Wasser greifen. Ich müsste mich sozusagen auf das Wasser einlassen und den Schlamm ganz gezielt aufwirbeln.

Die Analogie ist zwar sicher nicht perfekt, aber trotzdem besteht eine gewisse Ähnlichkeit zur Gemeinde. Keine echte Gemeinde Jesu Christi sollte lediglich ein Ort sein, an dem die Gläubigen einmal in der Woche aufeinandertreffen und dann weiter ihren Geschäften nachgehen. Es ist eine Schande, wenn Christen, ganz zu schweigen von Nichtchristen, denken, die Versammlung der Gemeinde sei nicht mehr ist als das! Mir fallen nur wenige Dinge ein, die eine Gemeinde lebloser oder weniger lohnenswert machen würden.

Die Ermahnung, „die Versammlung nicht zu verlassen“, ist bei weitem nicht so leblos und langweilig zu verstehen. Sie ruft Christen nicht zum passiven Sitzen in der Kirchenbank auf. Im Gegenteil, sie ruft sie zu einem Leben auf, das vor Energie nur so sprudelt. Sie ruft Christen dazu auf, mit anderen Christen zusammenzuleben, sie zu lieben, sie zu ermutigen, sie zu guten Werken anzuspornen und, was vielleicht am wichtigsten ist, sie immer auf den Tag hinzuweisen, an dem ihr Herr wiederkommen wird. Es reicht nicht aus, wenn wir „in die Gemeinde gehen“. Nur indem wir Gemeinde sind, können wir die Absicht Christi mit uns als seinem Volk erfüllen.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.