Gemeinsames Leben

Wie biblische Theologie die Gemeinde schützt und leitet

Von Jonathan Leeman

Jonathan Leeman ist der Redaktionsleiter von 9Marks. Er ist Herausgeber der 9Marks Buchreihe sowie des 9Marks Journal. Jonathan lebt mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in einem Vorort von Washington DC (USA) und ist Ältester der Cheverly Baptist Church.
Artikel
03.02.2021

Biblische Theologie ist eine Leseweise der Bibel. Sie ist eine Hermeneutik. Die biblische Theologie setzt voraus, dass die zahlreichen Autoren und Bücher der Bibel gemeinsam eine Geschichte erzählen, deren Autor Gott ist: die Geschichte von Jesus Christus.

Das klingt akademisch? Das stimmt, aber…

Die biblische Theologie ist kein praxisfremdes Fachgebiet, sondern ein wichtiger Schutz und Wegweiser für deine Gemeinde. Sie schützt Gemeinden vor falschen Geschichten und Irrwegen. Sie führt die Gemeinde hin zu besseren Predigten und Methoden und zeigt ihr bessere Wege.

BIBLISCHE THEOLOGIE ALS WÄCHTER DER GEMEINDE

Nehmen wir beispielsweise die liberale Theologie. Sie deutet die Heilsgeschichte um und stellt Gottes Erlösungswerk als die Befreiung von wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und die Überwindung eines egoistischen politischen Bewusstseins dar. Diese Seiten der Erlösung mögen nicht ganz falsch sein. Es erinnert mich an eine Situation bei mir zuhause: eine meiner Töchter beschreibt mir einen Streit mit ihrer Schwester. Sie sagt zwar die Wahrheit, doch sie lässt wichtige Details aus und betont dafür andere über. Die Dinge, die sie aufeinander bezieht, haben beim näheren Hinsehen oft nichts miteinander zu tun. So verhält es sich auch mit der Darstellung der liberalen Theologie und dem biblischen Evangelium.

So ist es ebenso mit dem Katholizismus, wo die Priester und die Sakramente eine Mittlerrolle einnehmen, die stark an den alten Bund erinnert.

So ist es auch mit dem Wohlstandsevangelium, das seinerseits Elemente des alten Bundes in den neuen Bund hinüberführt – nur, dass es in diesem Fall der materielle Segen ist.

Andere Gruppen holen nichts aus der Vergangenheit der Heilsgeschichte in die Gegenwart, sondern aus der Zukunft der Heilsgeschichte. Die perfektionistischen Wiedertäufer glaubten zum Beispiel vor langer Zeit, dass sie den Himmel auf Erden herbeibringen konnten. Im vergangenen Jahrhundert haben das auch die liberalen Christen versucht. Heute sind es die Christen, die nichts mehr wollen, als die Gesellschaft zu verändern, die fast unmerklich die Evangeliumsbotschaft neuschreiben.

Es ist eine lange Liste: angefangen bei „christlich“ angehauchten Sekten (wie den Mormonen und den Zeugen Jehova) über Bewegungen innerhalb von Gemeinden (wie das „soziale Evangelium“, die Befreiungstheologie, amerikanisch-messianische Bewegungen) bis hin zu separatistischen Tendenzen des Fundamentalismus. Die einen mehr als die anderen.

Der springende Punkt ist, dass ein unausgewogenes (oder falsches) Evangelium und unausgewogene (oder falsche) Gemeinden entweder auf Bibelstellen aufbauen, die aus dem Kontext gerissenen werden, oder auf insgesamt falsch verstandenen Bibelgeschichten. Es kann sein, dass sie die falschen Verbindungen zwischen den großen Bündnissen der Bibel ziehen. Es kann sein, dass sie eine zu große Kontinuität oder Diskontinuität in der Bibel sehen. Es kann sein, dass sie nicht zwischen Typ und Antityp unterscheiden. Es kann sein, dass ihre Endzeiterwartung zu nah oder zu fern ist (überrealisierte und unterrealisierte Eschatologie). Es kann sein, dass sie den Himmel auf Erden versprechen. Es kann sein, dass sie das geistliche Leben jetzt entkörperlichen.

Egal, auf welcher Seite sie vom Pferd fallen, schlechte oder unausgewogene Formen von biblischer Theologie verkünden ein falsches oder unausgewogenes Evangelium. Das ist wiederum das Fundament für ungesunde oder unausgewogene Gemeinden.

Eine gute biblische Theologie schützt hingegen das Evangelium und somit die Gemeinde. „Eine solide biblische Theologie kann Christen jedoch vor den gravierendsten Formen des Reduktionismus schützen“, schreibt D. A. Carson.

Es gehört daher zur Aufgabe eines Pastors: a) sich in guter biblischer Theologie auszukennen und b) eine Vorstellung von verschiedenen Formen schlechter biblischer Theologie zu haben, die einen Einfluss auf die Mitglieder und Besucher seiner Gemeinde haben können. Heute sind beispielsweise viele von einer Version des Wohlstandsevangeliums geprägt. Kannst du erklären, warum diese Art geistliche Milch schlecht ist? (Siehe hierzu diesen Artikel und besonders diesen.)

BIBLISCHE THEOLOGIE ALS WEGWEISER FÜR DIE GEMEINDE

Biblische Theologie schützt jedoch nicht nur die Gemeinde, sie führt sie auch. Sie ist ein Wegweiser für gute Predigten, gute Evangelisation, gute Gottesdienste, gute Gemeindestrukturen und ein gesundes Leben als Christ.

Ein Wegweiser für gute Predigten

Wenn du dich an deinen Schreibtisch setzt, um einen Bibeltext zu studieren und deine Predigt vorzubereiten, hält dich die biblische Theologie davon ab, einfach nur einige Verse herauszugreifen, um deine Behauptung zu untermauern oder eine unausgewogene Version der Heilsgeschichte zu erzählen.

Die biblische Theologie stellt den jeweiligen Bibeltext in den richtigen Kontext im biblischen Kanon und hilft dir zu erkennen, was dieser mit der Person und dem Werk Christi zu tun hat. Sie bewahrt dich vor moralistischen Predigten, sodass du echte christliche Predigten hältst. Sie hilft dir zwischen Indikativ und Imperativ zu unterscheiden und Glauben und Werke in den richtigen Zusammenhang zu setzen. Sie bringt dir evangelistische Auslegung bei. Sie sorgt dafür, dass jede Predigt Teil der großen Geschichte bleibt.

Kurzum, du bist als Pastor auf biblische Theologie angewiesen, um den wichtigsten Teil deiner Arbeit erledigen zu können: Gottes Wort predigen und lehren. Siehe hierzu Jeramie Rinnes Artikel: “Biblical Theology and Gospel Proclamation.”

Ein Wegweiser für gute Evangelisation

Wenn wir uns der Evangelisation der Gemeinde zuwenden, dann hilft uns die biblische Theologie, mit einer ausgewogenen Erwartung heranzugehen: Wir erwarten weder zu viel (überrealisierte Eschatologie) noch fordern wir zu wenig (billige Gnade, rettender Glaube ohne gehorsame Nachfolge und praktische Heiligung, Dazugehören ohne Glauben, keine Imperative predigen).

Eine gute biblische Theologie verspricht uns hier und jetzt kein perfektes Leben (ob das Gesundheit und Reichtum bedeutet oder, die Stadt zu verändern, das Wohlwollen der Elite zu gewinnen oder Amerika zurückzuerobern). Doch sie scheut auch nicht davor zurück, sich mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen und der Stadt Bestes zu suchen durch den praktischen Dienst an unseren Nächsten um der Liebe und Gerechtigkeit willen.

Biblische Theologie macht Evangelisation und Mission, also den Dienst an unseren Nächsten durch das Wort, zur Hauptsache, ohne Wort und Tat fälschlicherweise voneinander zu trennen. Die beiden müssen bei Mission und Evangelisation untrennbar miteinander verbunden sein, wie der Erzählstrang der Bibel von Adam über Abraham, Israel und David bis hin zu Christus und der Gemeinde zeigt.

Ein Wegweiser für gute Gottesdienste

Ist Davids nackter Tanz vor der Bundeslade maßgebend für unsere Gottesdienste? Nein? Was ist mit dem Weihrauch der alttestamentlichen Priester, dem Einsatz von Instrumenten und Chören, dem „Darbringen von Opfern“ für verschiedene Feiertage oder dem Lesen und Erklären des Bibeltextes? Eine gesunde biblische Theologie hilft uns zu beurteilen, welche Dinge auch im neuen Bund noch gelten und welche abgelöst worden sind.

Vieles hängt hier davon ab, welche Verbindungen man zwischen den Bündnissen zieht, wie man an Kontinuität und Diskontinuität der Bibel herangeht und wie man das Werk der Erfüllung Christi versteht. Es hängt ebenfalls davon ab, welche Sicht man auf die Autorität der versammelten Gemeinde hat.

All das mag akademisch klingen. Doch als Pastor hängt deine praktische Arbeit und das Leben deiner Gemeinde in jedem Fall von einer biblischen Theologie ab. Die Frage ist: Hast du dir überlegt, welche biblische Theologie das ist?

Siehe hierzu Bobby Jamiesons Artikel “Biblical Theology and Corporate Worship.”

Ein Wegweiser für gute Gemeindestrukturen

Auch im Blick auf den Aufbau und die Struktur unserer Gemeinden müssen wir uns fragen, welche Dinge der neue Bund abgelöst hat (Diskontinuität) und welche Dinge fortbestehen (Kontinuität). In Bezug auf die Kontinuität bleibt gleich, dass es immer Menschen gibt, die zum Volk Gottes gehören, und Menschen, die Außenstehende sind. Das bedeutet, dass wir in unseren Gemeinden Mitgliedschaft und Gemeindezucht praktizieren müssen. In Bezug auf die Diskontinuität verändert sich die Leiterschaft des Volkes Gottes vom alten zum neuen Bund dramatisch. Erstens wird das ganze Volk Gottes zu Priestern. Zweitens sind Gottes Älteste Unterhirten, die die Herde durch das Wort ernähren.

Zweifellos hängt die Frage, wer Gemeindeglied sein kann, von der biblischen Theologie ab. Ist die Mitgliedschaft nur für Gläubige oder für Gläubige und ihre Kinder? Das hängt davon ab, wie viel Kontinuität oder Diskontinuität man zwischen Beschneidung und Taufe sieht.

Ein Wegweiser für ein gesundes Leben als Christ

Abschließend lohnt es sich zu überlegen, welche Bedeutung die biblische Theologie für ein gesundes Leben als Christ hat und wie dieses Leben mit der Ortsgemeinde verbunden ist.

In der Geschichte des Auszugs aus Ägypten erlebte das Volk Gottes die Erlösung gemeinsam. Doch im Neuen Testament ist die Erlösung individuell, oder?

Es kommt darauf an, wie man die Beziehung zwischen dem alten und dem neuen Bund versteht und was Christus im neuen Bund vollbringt.

Man könnte argumentieren, dass es ein Bundesvolk geben muss, da es ein Bundeshaupt gibt (siehe Jer 31,33; 1. Petr 2,10), oder? Außerdem sagt Paulus, dass die Mauer der Feindschaft zwischen Juden und Heiden abgebrochen ist und dass in genau dem Moment „ein neuer Mensch“ geschaffen wurde, da die Sünder mit Gott versöhnt wurden (Eph 2,11-22; zu den gemeinschaftlichen Aspekten der Bekehrung hier:).

Wenn es stimmt, dass die Erlösung im Neuen Testament ebenso sehr auf ein Volk ausgerichtet ist wie im Alten Testament, dann ist auch das christliche Leben grundsätzlich gemeinschaftlich (auch wenn die Einzelnen die Erlösung anders als beim Auszug aus Ägypten nicht zeitgleich erleben). Und Wachstum ist gemeinschaftlich. Und das Leben im Glauben ist gemeinschaftlich. Adoptiert hat mich der Vater, aber er hat mich in eine Familie aufgenommen: Wenn ich sein Sohn oder seine Tochter bin, dann bin ich auch Bruder oder Schwester aller seiner Kinder.

Diese gemeinschaftliche Realität wirkt sich auf vielfältige Weise auf alle Aspekte der Lehre, Gemeinschaft und Kultur einer Gemeinde aus. Einer der wichtigsten Gründe, warum die Ortsgemeinde besteht, – wenn diese biblische theologische Darstellung richtig ist – ist, um Gemeinde zu sein. Um diese neue Familie, dieses neue Volk, diese neue Nation, diese neue Kultur, dieser neue Leib zu sein. Am Ende dreht sich so viel geistliches Wachstum nicht darum, was ich in meiner stillen Zeit mache, sondern darum, wie ich lerne, meine neue Identität als Familienmitglied anzunehmen.

Die andere Gefahr ist, dass eine biblische Theologie den Einzelnen auf Kosten des Leibes überbetont (wozu einige Ausprägungen der konservativen Theologie neigen) oder die gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen auf Kosten der individuellen Schuld überbetonen (wie es einige Ausprägungen der liberalen Theologie tun).

Darüber hinaus hilft dir dein Verständnis der gesamtbiblischen Erzählung zu wissen, was du von deinen Mitmenschen erwarten kannst: wie viel Gerechtigkeit, wie viel Sieg über Sünde, wie viel geistliche Heilung für ein Opfer von Ungerechtigkeit, wie viel Wiederherstellung in zerbrochenen Beziehungen. Dein Verständnis der gesamtbiblischen Erzählung beeinflusst auch, wie du mit Leid, Unrecht und Gerechtigkeit umgehst, die dir in deinem Leben und im Leben der anderen begegnen.

Mit anderen Worten, eine richtige biblische Theologie führt zur richtigen Sicht auf diese Zwischenzeit, in der wir leben: Das Reich Gottes ist bereits angebrochen, aber noch nicht vollendet. Es ist leicht, zu viel „bereits“ oder zu viel „noch nicht“ zu erwarten.

Fazit: Eine richtige biblische Theologie dient als vertrauenswürdiger Wegweiser für das christliche Leben, zumal dieses Leben auf die Ortsgemeinde ausgerichtet ist. Und sie schützt die Gemeinde vor falschen Schwerpunkten und Betonungen, falschen Erwartungen und einem falschen Evangelium.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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