Gemeinsames Leben

Was macht eine „Gemeinde“ aus?

Von Jonathan Leeman

Jonathan Leeman ist der Redaktionsleiter von 9Marks. Er ist Herausgeber der 9Marks Buchreihe sowie des 9Marks Journal. Jonathan lebt mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in einem Vorort von Washington DC (USA) und ist Ältester der Cheverly Baptist Church.
Artikel
03.02.2021

Eine theologische Kritik des Multi-Site- und Multi-Service-Modells

Wie wird deiner Meinung nach aus einer Gruppe von Christen eine Ortsgemeinde? Ich gehe davon aus, dass drei Christen, die im Park zusammen Frisbee spielen, keine Ortsgemeinde sind. Was fehlt?

Was wäre, wenn die drei Freunde nach dem Parkbesuch noch zusammen in ein Café gehen und vor dem Essen beten? Sind sie dann eine Gemeinde? Was wäre, wenn sie ihre Bibeln rausholen und einander anhand des Wortes Gottes belehren? Was, wenn sie sich jede Woche treffen? Was, wenn sie Abendmahl feiern? Was, wenn sie einander eine Art Versprechen ablegen? Was, wenn sie einen Antrag stellen, um bei den Behörden vor Ort als Kirchengemeinde anerkannt zu werden? Was, wenn sie aufhören sich in einem Café zu treffen und stattdessen ein Kirchengebäude mieten? An welchem Punkt werden aus drei Freunden im Park drei Christen, die gemeinsam eine Gemeinde darstellen?

Kurz gesagt: Was macht die Ortsgemeinde zur Gemeinde? Diese Frage stellt sich insbesondere angesichts des Phänomens von Multi-Site-Gemeinden, d.h. Gemeinden mit verschiedenen Standorten. Die sauberste und einfachste Argumentation gegen Multi-Site-Gemeinden ist eine semantische (d.h. dass man anhand der Bedeutung des Begriffs Gemeinde argumentiert, Anm. der Red.). Ekklesia bedeutet Versammlung und daher ist eine Versammlung eine Gemeinde. Doch hinter der semantischen Argumentation steht die etwas komplexere theologische Frage: Was macht eine Ortsgemeinde zu einer Gemeinde?

Obwohl es natürlich Ausnahmen gibt, bezeichnen Multi-Site-Gemeinden ihre verschiedenen Standorte oder Campusse in der Regel nicht als „Gemeinden“. Die Bethlehem Baptist Church in Minnesota, für deren Dienst ich enorm dankbar bin, bezeichnet ihre drei „Campusse“ zusammengenommen als eine „Gemeinde“. Campus A ist keine Gemeinde oder zumindest bezeichnen sie ihn nicht als solche. Campus B ist keine Gemeinde. Campus C ist keine Gemeinde. Doch Campus A, B und C bilden zusammen eine Gemeinde.

Das wirft erneut die Frage auf: An welchem Punkt wird ein Campus (oder ein Standort) zu einer Gemeinde? Warum wird gesagt, dass eine Gruppe von Christen, die sich an einem Campus versammelt keine Gemeinde ist, während der Zusammenschluss von Campussen hingegen eine Gemeinde ist? Schließlich tun die Menschen, die zusammen an einem Campus versammelt sind all die Dinge, die eine Gemeinde zur Gemeinde macht wie das Singen und Abendmahl feiern und Hören von Gottes Wort. Warum werden sie dann nicht als „eine Gemeinde“ angesehen?

Im Folgenden betrachte ich zunächst die Antwort, die von den Vertretern des Multi-Site-Modells gegeben wird. Danach beleuchte ich deren biblische Argumentation für das Multi-Site-Modell. Im Anschluss möchte ich eine alternative Antwort auf die Frage geben, was eine Ortsgemeinde ausmacht, gefolgt von einem kurzen Wort an diejenigen, die das kongregationalistische Modell nicht teilen. Abschließend ziehe ich in vier Punkten ein Fazit.

Ich möchte meinen Lesern versichern, dass ich trotz meiner kritischen Anfragen an dieses Modell Gott von Herzen dankbar bin, wenn ich die gute Arbeit für das Evangelium ansehe, die viele Multi-Site-Gemeinden für das Reich Christi tun. Es erfüllt mich mit Demut, wenn ich ihren Eifer für den Herrn sehe, und ich hoffe, dass sie mir einen Teil dieses Eifers zukommen lassen, um mich, wo nötig, zu korrigieren.

Die Definition von ekklesia bei den Multi-Site-Gemeinden

Was macht aus Sicht der Vertreter des Multi-Site-Modells die verschiedenen Standorte und Gottesdienste zu „einer Gemeinde“? Soweit ich das beurteilen kann, scheint es sich um so etwas wie eine gemeinsame Organisationsstruktur zu handeln. In ihrem Buch Multi-site Church Revolution schreiben die Autoren Warren Bird, Greg Ligon und Geoff Surratt:

„Eine Multi-Site-Gemeinde ist eine Gemeinde, die sich an verschiedenen Orten trifft – in verschiedenen Räumlichkeiten auf demselben Campus, an verschiedenen Orten in derselben Region oder in einigen Fällen in verschiedenen Städten, Bundesstaaten oder Ländern. Eine Multi-Site-Gemeinde teilt eine gemeinsame Vision, einen Haushalt, eine Leitung und einen Vorstand.“ (Zondervan, 2006, S. 18; Hervorhebungen nachträglich hinzugefügt).

Wenn ich die Argumentation richtig verstehe, bedeutet das, dass der entscheidende Punkt, an dem eine Gruppe von Christen von „keiner Gemeinde“ zu „einer Gemeinde“ wird, darin besteht, dass sie eine gemeinsame Vision, einen Haushalt und eine Leitung teilen. Ich bin mir sicher, dass für die Autoren auch noch weitere Elemente maßgeblich für das Bestehen einer Gemeinde sind, z.B. die Verkündigung des Wortes und die Ausübung der Sakramente. Doch neben dem Wort und den Sakramenten, so scheint es, braucht man in der Regel eine Leitung, einen Haushalt und eine Organisationsstruktur. Das ist die notwendige Schlussfolgerung, um sagen zu können, dass die Menschen, die sich an einem Standort versammeln, um die Predigt zu hören und die Sakramente zu feiern keine Gemeinde sind, sondern dass stattdessen alle Standorte zusammengenommen „eine Gemeinde“ bilden.

Die Website der Bethlehem Baptist Church in Minneapolis, Minnesota, besagt ungefähr das Gleiche.

„Wir sind eine Multi-Site-Gemeinde. Als Teil unserer Strategie Treasuring Christ Together ist es unser Ziel, unsere Campusse zu multiplizieren. Darum haben wir von unserem ersten Campus im Stadtzentrum von Minneapolis aus, der 1871 gegründet wurde, 2002 North Campus und 2006 South Site ins Leben gerufen. Anders als bei Gemeindeneugründungen sind die Campusse allesamt Teil der Bethlehem Baptist Church mit derselben Vision, derselben Strategie, denselben theologischen Grundlagen, demselben Ältestenkreis, derselben Gemeindeverfassung, demselben Kreis an Missionaren und demselben Haushalt.“ (hier nachzulesen; Hervorhebungen nachträglich hinzugefügt).

Beachte, dass es sich nicht um „Gemeindeneugründungen“ handelt, d.h. nicht um neue Gemeinden. Es geht um neue Standorte oder Campusse. Pastor John Piper begründet in seinem Blog die Entscheidung für mehrere Campusse so:

„Ich denke, der Kern der biblischen Gemeinschaft und Einheit der Gemeinde hängt von der Einheit des Ältestenkreises, der Einheit in der Lehre und der Einheit in der Herangehensweise an den Dienst ab. Und innerhalb der Gemeinde hängt es dann von wichtigen Beziehungsmustern ab, die aus biblischer Sicht lebensspendend sind und alle biblischen „Einander“-Gebote für das Zusammenleben in der Gemeinde umfassen.“

Piper spricht hier von der „biblischen Gemeinschaft und Einheit der Gemeinde“. Ich hoffe, dass ich nicht ungerecht bin in der Annahme, dass er damit die Dinge meint, die die verschiedenen Gottesdienste und Campusse der Bethlehem Baptist Church zu „einer Gemeinde“ machen, nämlich die Einheit in der Leitung, der Lehre und der Herangehensweise an den Dienst. Er erwähnt außerdem „verschiedene Beziehungsmuster“. Es ist jedoch nur schwer nachzuvollziehen, inwiefern diese gültig sind, weil es an sich zumindest um getrennte Beziehungsmuster gehen muss – ein oder mehrere Beziehungsmuster an einem Campus, weitere Muster an einem anderen Campus usw. Schließlich spricht er über Beziehungen, die lebensspendend sind, was bedeuten sollte, dass es sich um Beziehungen handelt, in denen Menschen beieinander sind und einander kennen.

Was mir beim Multi-Site-Modell etwas unklar bleibt, ist, welche Rolle die Versammlung oder Zusammenkunft spielt, damit eine Gemeinde zur Gemeinde wird. Einerseits scheint es, dass deren Vertreter sagen: „Auf jeden Fall soll sich ein Christ mit anderen Christen versammeln. Dazu weist uns die Schrift an (Hebr 10,25). Und wir würden sagen, dass sich ein Christ an einem möglichen Standort mit anderen Gläubigen versammeln muss. Wenn sich absolut niemand, nirgendwo versammeln würde, dann hätten wir keine Gemeinde.“

Andererseits scheinen sie strenggenommen den Gedanken der Versammlung oder Zusammenkunft aus der Definition einer Gemeinde zu entfernen. Campus A und Campus B versammeln sich schlicht und ergreifend nicht zusammen und dennoch bilden sie eine „Gemeinde“: In der Praxis versammeln sich die Gottesdienstbesucher der verschiedenen Standorte zwar wirklich, jedoch an getrennten Orten. Doch per Definition müssen wir sagen, dass sie die Versammlung aus der ekklesia entfernt haben. **Im besten Fall können wir sagen, dass es hier eine Spannung gibt. Daher sage ich, dass es mir unklar ist. Sie können sagen, dass Christen sich an einem nicht näher bestimmten Ort versammeln müssen, damit eine Gemeinde existiert. Doch damit nennen sie etwas „Gemeinde“, was strenggenommen nicht versammelt ist.

Wenn zutrifft, was ich sage, dann steht die Multi-Site-Definition von ekklesia  nicht so sehr für „Versammlung“ oder „Zusammenkunft“, sondern für „Leitung“, „Herangehensweise an den Dienst“ oder „Organisationsstruktur“ oder sogar: „Christen, die eine gemeinsame Leitungsstruktur und ein gemeinsames Dienstverständnis vereint, obwohl sie nicht notwendigerweise am selben Ort versammelt sind.“

Die biblische Argumentation für das Multi-Site-Modell

Im Folgenden möchte ich einen kurzen Blick auf die biblische Diskussion zum Thema Multi-Site-Gemeinden werfen. Ihre Befürworter führen in ihren biblischen Begründungsansätzen in der Regel an, dass das Bild von „Gemeinde“, das wir im Neuen Testament finden, sehr flexibel ist. Beispielsweise schreiben Mark Driscoll und Gerry Breshears im Blick auf die neutestamentlichen Gemeinden, dass „die dort zu sehende Vielfalt bei der Ortswahl darauf hinweist, dass die frühe Kirche in diesem Punkt relativ flexibel war und sich dort versammelte und Gottesdienst feierte, wie es den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Zeit entsprach“ (Vintage Church, Crossway, 2008, S. 244). Driscoll und Breshears verweisen auf „ein Netz von Gemeinden, die über eine bestimmte Stadt verstreut sind (z.B. Korinth, Galatien, Thessalonich und Philippi).”

Das Problem an dieser Argumentation ist, dass Paulus nicht an ein „Netz von Gemeinden“ schreibt. Er schreibt an die „Gemeinde“ (Einzahl) in der Stadt Korinth und an die „Gemeinden“ (Mehrzahl) in der Region Galatien. Mir leuchtet nicht ein, warum sie hier in einen Topf geworfen werden. Driscoll und Breshears nehmen auch Bezug auf „die Gemeinden in den Gebieten „Pontus, Galatien, Kappadozien, Asia und Bithynien“ (1Petr 1,1), die sie als „miteinander verbundene Netzwerke von Gemeinden“ bezeichnen. Der Text ist allerdings an die „Heiligen“, nicht an die „Gemeinden“ gerichtet. So oder so kann ich in diesem Text keine Multi-Site-„Gemeinde“ bestehend aus mehreren „Campussen“, „Gottesdiensten“ oder „Standorten“ erkennen.

Die überzeugendere biblische Begründung, die von den Vertretern des Modells angeführt wird, beruht auf dem Verweis auf die Hausgemeinden im Römer- und Kolosserbrief. Paulus schreibt den Römerbrief „an alle in Rom anwesenden Geliebten Gottes“ (1,7), was sich entweder auf eine Gemeinde oder ein Netz von Gemeinden beziehen muss. Am Ende des Briefes trägt er dann seinen Lesern auf, Priscilla und Aquila und „die Gemeinde in ihrem Haus“ (16,5) zu grüßen, was Folgendes bedeuten könnte: Wenn es nur eine „Gemeinde“ in Rom gibt, an die er seinen Brief schreibt, dann besteht diese eine „Gemeinde“ aus vielen „Hausgemeinden“. Wir können diese Beobachtung gleichermaßen im Brief „an die heiligen und treuen Brüder in Christus in Kolossä“ (Kol 1,2) machen. Paulus redet später von einer konkreten Hausgemeinde (4,15), die sich von einer weiteren Hausgemeinde zu unterscheiden scheint, die sich im Haus des Philemon traf, der bekanntermaßen auch in Kolossä lebte (Phm 1,2).

Die Grundidee ist hier – so die Argumentation –, dass die einzelne Hausgemeinde als „eine Gemeinde“ bezeichnet werden kann, aber auch all diese Gemeindenetzwerke als „eine Gemeinde“ bezeichnet werden können: Ähnlich wie eine Filiale der Citibank als „Bank“ bezeichnet werden kann, aber auch das gesamte Kreditinstitut, zu dem all diese Banken gehören. Und diese Argumentation könnte greifen, sofern der Begriff „Gemeinde“ tatsächlich flexibel genug sein sollte oder sofern die grundlegenden Charakteristika einer „Gemeinde“ das zuließen oder sofern die Schrift den Begriff eindeutig auf diese Weise benutzen würde.

Es erscheint mir etwas merkwürdig, dass die Befürworter des Multi-Site-Modells sich auf Römer 16,5 und Kolosser 4,15 berufen, weil sie anders als in diesen zwei Versen ihre verschiedenen Standorte oder Campusse gar nicht als Gemeinden bezeichnen, während dort die Hausgemeinden ausdrücklich als „Gemeinden“ bezeichnet werden. Die Multi-Site-Vertreter „beugen“ das Wort nicht so, wie es die Schrift ihrer Aussage nach tut. Wenn die Versammlung in Rom, die sich im Haus von Priscilla und Aquila traf, eine „Gemeinde“ war, wie Paulus sagt, und wenn diese Hausgemeinde Teil der größeren „Gemeinde“ in Rom war, warum bezeichnet man dann die verschiedenen Campusse oder Standorte heute nicht als Gemeinden? Mehr noch: Welche theologische Erklärung lässt sich dafür geben, dass die Hausgemeinde eine Gemeinde ist und die Stadtgemeinde eine Gemeinde ist, die aus verschiedenen Gemeinden besteht? Was wäre der Unterschied zwischen den beiden? Wenn die Hausgemeinde wirklich eine Gemeinde war, warum sollten sie sich dann noch mit der großen Stadtgemeinde versammeln? Kurzum: Die Befürworter des Multi-Site-Modells haben noch eine Menge zu erklären, wenn sie diese zwei Bibelstellen verwenden wollen, um ihren Standpunkt zu belegen.

Die größere Schwierigkeit bei dieser Argumentation liegt jedoch darin, dass Paulus an keiner Stelle von der Gemeinde (Einzahl) Roms oder Kolossäs spricht und auch an keiner Stelle von den „Hausgemeinden“ (Mehrzahl) in Jerusalem spricht. Selbst, wenn es Grund gäbe, anzunehmen, dass er an eine einzige Gemeinde in Rom oder Kolossä schreibt, wie manche Kommentare sagen, gibt es absolut keinen Grund, zu denken, dass besagte Hausgemeinden außerdem zu der einzigen Stadtgemeinde gehören (bzw. diese ausmachen). Vielleicht gab es eine große Gemeinde in Rom, an die er seinen Brief verfasst, und Priscilla und Aquila hatten ihre eigene kleine Gemeinde am Stadtrand. Wer weiß! Worauf ich hinaus will, ist, dass die Schrift nichts darüber sagt. Sie spricht nur von den „in Rom anwesenden Geliebten Gottes“ (Röm 1,7) und der „Gemeinde in ihrem Haus“ (Röm 16,5). Alles andere müssten wir uns im Übrigen ausdenken.

Eine weitere Stelle, die von den Befürwortern des Multi-Site-Modells herangezogen wird, ist der Bericht aus der Apostelgeschichte über die Gemeinde in Jerusalem. Hier werden mindestens zwei Argumente angeführt. Erstens sagen einige, dass die Gemeinde in Jerusalem sich angesichts ihrer Größe in verschiedenen Hausgemeinden getroffen haben muss. Sie konnten sich nicht alle zusammen versammelt haben. Das Problem bei dieser Aussage ist natürlich, dass die Apostelgeschichte ausdrücklich sagt, dass die Jerusalemer Gemeinde sich mit allen versammelt hat – all die tausenden Christen gemeinsam (siehe Apg 2,445,126,1–2).

Zweitens sagen die Befürworter des Multi-Site-Modells, dass die eine Gemeinde in Jerusalem immer noch als „eine Gemeinde“ zu verstehen ist, selbst inmitten ihrer verschiedenen Versammlungen in unterschiedlichen Häusern. Die zwei Verse, die häufig in diesem Zusammenhang zitiert werden, kommen beide aus der Apostelgeschichte:

  • „Und jeden Tag waren sie beständig und einmütig im Tempel und brachen das Brot in den Häusern, nahmen die Speise mit Frohlocken und in Einfalt des Herzens“ (Apg 2,46).
  • „Saulus aber verwüstete die Gemeinde, drang überall in die Häuser ein, schleppte Männer und Frauen fort und brachte sie ins Gefängnis“ (Apg 8,3).

Ich muss zugeben, dass mich diese Argumentation etwas überrascht hat. Bevor die Technik das Phänomen von Multi-Site-Gemeinden ermöglichte, hat, soviel ich weiß, niemand diese Verse in diesem Sinne ausgelegt. Das natürlichste Verständnis wäre meiner Meinung nach, zu sagen, dass die Gemeinde in Jerusalem auch dann noch die „Gemeinde“ ist, wenn sie über die verschiedenen Häuser verteilt ist. Ebenso, wie ich sagen würde, dass ein Basketballteam auch dann noch ein „Team“ ist, wenn die Teammitglieder in verschiedenen Hotelzimmern oder Städten übernachten. Und sie sind natürlich in erster Linie deshalb ein Team, weil sie regelmäßig zusammenkommen und die Dinge tun, die ein Basketballteam ausmachen.

Gleichermaßen kommt die Gemeinde in Apostelgeschichte 2 im Tempel zusammen, um das zu tun, was sie zu einer Gemeinde macht, und danach teilt sich die Gemeinde in kleinere Gruppen auf, um das Brot zu brechen und Gemeinschaft miteinander zu haben. Sie werden nicht durch das zur Gemeinde, was sie tun, wenn sie sich aufteilen, sondern durch das, was sie tun, wenn sie alle versammelt sind. In Apostelgeschichte 8 lesen wir dann, dass Saulus von Haus zu Haus geht und die Mitglieder der Jerusalemer Gemeinde verfolgt. Das wäre so, als würde man sagen: „Der Trainer ging von Zimmer zu Zimmer, um dem Basketballteam mitzuteilen, dass das Spiel verschoben worden war.“

Hier wird eine Grundidee erkennbar, die wir uns merken sollten. Wir sehen, wie das Neue Testament, insbesondere die Apostelgeschichte beginnt, das Wort „Gemeinde“ als Bezeichnung für die Mitglieder einer Gemeinde zu verwenden, und zwar selbst dann, wenn diese nicht alle versammelt sind und typische Gemeindedinge tun. „[Als Paulus] in Cäsarea gelandet war, zog er hinauf und grüßte die Gemeinde und ging dann hinab nach Antiochia“ (Apg 18,22). Bedeutet das, dass er ausgerechnet an einem Sonntagmorgen landete und dann direkt zu ihrer Versammlung gehen konnte, um alle zu begrüßen? Oder bedeutet es, dass er herumzog und eine Reihe der Gemeindemitglieder begrüßte. Ich gehe von Zweitem aus. Das Vorbild von Apostelgeschichte 8 ist noch deutlicher.

Die meisten von uns verwenden den Begriff „Gemeinde“ ebenfalls so, wenn wir z.B. davon reden, dass wir unter der Woche für unsere „Gemeinde“ beten. Wir versammeln uns vielleicht nicht am Dienstag mit unserer Gemeinde, aber wir können auch am Dienstag sagen, dass die Gemeinde existiert, weil wir die Gemeinde an diesem Punkt mit ihren Mitgliedern identifizieren. Kannst du am Dienstag Mitglied einer Gemeinde und somit Teil der „Gemeinde“ sein, obwohl du nie bei den Zusammenkünften am Sonntag dabei bist?

Zumindest in den USA war das in den letzten Jahrzehnten möglich und in meiner eigenen Denomination auf jeden Fall. Doch in der Bibel? Das bringt uns zurück zu der Frage, was eine Ortsgemeinde überhaupt erst zu einer Gemeinde macht. Wann überschreitet man den Punkt, an dem aus einer Gruppe von Christen eine Gemeinde wird?

Was macht die Gemeinde zu einer Gemeinde?

Was macht demnach eine Ortsgemeinde auf der Erde zur Gemeinde? Die Bibel gibt uns, denke ich, eine einfache und unkomplizierte Antwort. Was eine Ortsgemeinde ausmacht, ist: eine Gruppe von Christen, die sich gemeinsam versammelt und die Vollmacht Christi übertragen bekommen hat, die Schlüssel des Himmelreichs zu gebrauchen, um zu binden und zu lösen. Drei Dinge sind folglich erforderlich, damit eine Gemeinde besteht: Christen, eine Versammlung mit der Vollmacht Christi und die Ausübung dieser Vollmacht, zu binden und zu lösen.

Die Mitgliedschaft in einer Ortsgemeinde macht dich nicht zum Christen. Das können nur Glaube und Umkehr. Dennoch sollten wir nicht davon ausgehen, dass Christus jedem Einzelnen dieselbe Vollmacht gibt, die er uns als Gemeinschaft gibt, nur weil er uns zu Christen gemacht hat. In Matthäus 16 und 18 sehen wir vielmehr, dass er der apostolischen Ortsgemeinde (den Aposteln in 16; der Ortsgemeinde in 18) die Vollmacht der Schlüssel des Himmelreichs gibt. Hier handelt es sich nicht um eine Vollmacht, die einzelnen Christen oder auch den Gemeindeältesten übergegeben wird, sondern der Gemeinde als Gesamtheit.

Ich werde mir an dieser Stelle nicht die Zeit nehmen, im Detail zu erläutern und zu verteidigen, wie „die Schlüssel des Himmelreiches“, das „binden und lösen“, zu verstehen sind (mehr dazu in meiner biblischen und theologischen Erörterung in der ersten Hälfte von Kapitel 4 von The Church and the Surprising Offense of God’s Love). Doch Michael Horton gibt uns eine schlüssige Definition von der Macht der Schlüssel, finde ich. Er schreibt: „Durch die Predigt, die Taufe und die Zulassung (oder Nichtzulassung) zum Abendmahl werden die Schlüssel zum Himmelreich gebraucht“ (People and Place, WJK, 2008, S. 243). Ich würde es ähnlich ausdrücken: Die Gemeinde auf der Erde hat die Macht der Schlüssel, das Evangelium zu verkünden und Menschen an dieses Evangelium zu binden oder davon zu lösen, so wie es ihrem glaubwürdigen Bekenntnis des Glaubens entspricht (ein unglaubwüdiges Bekenntnis führt entweder dazu, dass jemand nicht zugelassen wird oder dass er Gemeindezucht erfährt).

Jesus bevollmächtigt also jeden Christen auf der Erde, stellvertretend für ihn und die Vollmacht seines Reiches zu stehen. Doch er bevollmächtigt die Ortsgemeinde bzw. die Institution Gemeinde dazu, öffentlich zu bestätigen oder zu verneinen, dass jemand ein Bürger von Christi Reich ist. Die Ortsgemeinde ist dazu bevollmächtigt, diese öffentliche Bestätigung oder Verneinung sichtbar zu machen, indem sie Menschen die Taufe und das Abendmahl gewährt oder vorenthält. In diesem Sinne gleicht die Ortsgemeinde dem Pressesprecher des Weißen Hauses, der offiziell bevollmächtigt ist, zu erklären, was der Präsident gesagt hat und was nicht, wozu der normale Bürger nicht bevollmächtigt ist.

Außerdem interessant ist, wie die Schrift die Schlüssel und ihre Ausübung durch die Sakramente in Zusammenhang mit den Versammlungen bringt und dass die Versammlungen konkret mit Jesus identifiziert werden. Betrachten wir die folgenden Beispiele:

Jesus:

„Hört er aber auf diese nicht, so sage es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, so sei er für dich wie ein Heide und ein Zöllner. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr auf Erden binden werdet, das wird im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, das wird im Himmel gelöst sein. Weiter sage ich euch: Wenn zwei von euch auf Erden übereinkommen über irgendeine Sache, für die sie bitten wollen, so soll sie ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.“ (Mt 18,17–20)

Paulus:

„[Ihr sollt] den Betreffenden im Namen unseres Herrn Jesus Christus und nachdem euer und mein Geist [d. h. vermutlich: sein Geist als ein Vollmacht übertragender Apostel] sich mit der Kraft unseres Herrn Jesus Christus vereinigt hat, dem Satan zu übergeben zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tag des Herrn Jesus.“ (1Kor 5,4–5)

„Denn erstens höre ich, dass Spaltungen unter euch sind, wenn ihr in der Gemeinde zusammenkommt, und zum Teil glaube ich es; denn es müssen ja auch Parteiungen unter euch sein, damit die Bewährten offenbar werden unter euch!“ (1Kor 11,18–19)

Beachte zuallererst, dass sich diese Gläubigen im Namen (durch die Vollmacht) Christi versammeln. In Matthäus 18 üben sie diese Vollmacht aus, um einen Einzelnen auszuschließen. Das gilt auch für 1. Korinther 5. In 1. Korinther 11 feiern sie dann das Abendmahl, weil sie dieselbe Vollmacht übergeben bekommen haben. Unwürdig vom Abendmahl zu essen, bedeutet sogar sich „schuldig am Leib und Blut des Herrn“ zu machen (1Kor 11,27), weil sie mit dem Abendmahl stellvertretend für Christus und seine Vollmacht stehen.

Zweitens bilden Christen in dem Sinne „eine Gemeinde“, dass die Gemeinde bestehen bleibt, ob die Mitglieder beieinander oder getrennt sind, so wie ein Team ein Team bleibt, ob beieinander oder getrennt. Das ist eine Frage der Identität, wie wir bereits gesagt haben. Doch Paulus kann den Begriff „Gemeinde“ auch noch etwas klarer umreißen und sogar institutionell verwenden wie in 1. Korinther 11. Er spricht davon, dass sie „in der Gemeinde zusammenkommen“, was Aufschluss darüber gibt, dass wir Christen nicht „die Gemeinde“ oder zumindest nicht „eine Gemeinde“ sind, wenn wir nicht versammelt sind. Mit anderen Worten: Diese offizielle Versammlung hat ein Dasein und eine Vollmacht, die keiner von uns für sich alleine hat. Es ist, als ob Paulus sagen würde: „Wenn ihr als Team zusammenkommt, dann spielt gut.“ Er spricht nicht mehr nur hinsichtlich der Identität, sondern nun auch hinsichtlich dessen, was faktisch ein Team oder eine Gemeinde ausmacht. Es ist die ganze Versammlung, die die Gemeinde ausmacht. Man kann nicht eine Gemeinde sein, wenn man sich nicht versammelt und das in der Vollmacht, die Macht der Schlüssel auszuüben.

Autoren, die Missio und Communio betonen, sträuben sich verständlicherweise gegen den Institutionalismus in Gemeinden. Doch ihre Kritik an der Gemeinde als einem bestimmten Ort oder einer bestimmten Veranstaltung oder einer bestimmten Zusammenstellung an Aktivitäten übersieht den Unterschied zwischen einer Ortsgemeinde und einer Gruppe von Christen, die sich im Park trifft. Sie übersehen die Tatsache, dass Christus eine irdische Organisation mit der offiziellen Vollmacht eingesetzt hat, zu erklären, wer zu ihm gehört und wer nicht, und dass die Mitglieder dieser Organisation nicht bevollmächtigt sind, die Firmenkreditkarte, wie und wann sie wollen, zu benutzen. Wann können die Mitglieder sie nutzen? Sie können sie nutzen, wenn sie offiziell in seinem Namen versammelt sind und der Geist Christi durch Wort und Sakramente gegenwärtig ist (vgl. Apg 4,316,214,2715,3020,7). Das sagen sowohl Jesus als auch Paulus.

Nicht nur im kongregationalistischen Gemeindeverständnis

Nicht nur das kongregationalistischen Gemeindeverständnis hat in der Kirchengeschichte die Position vertreten, dass eine Versammlung erforderlich ist, damit die Gemeinde zur Gemeinde wird. Artikel 19 des Bekenntnisses der Anglikanischen Kirche (die sog. 39 Artikel) besagt: „Die sichtbare Kirche Christi ist eine Versammlung von Gläubigen, in welcher das Wort Gottes rein gelehrt wird und die Sakramente in allem, was notwendig dazu gehört, der Einsetzung Christi gemäß recht verwaltet werden.“ Artikel 7 des lutherischen Augsburger Bekenntnisses besagt: „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.“

Ein Teil der Argumentation, die ich hier vertrete, ist mit anderen Worten kongregationalistisch. Doch die Quintessenz meiner Worte ist es nicht. Das Multi-Site-Modell stellt daher ein relativ neues Phänomen in der Kirchengeschichte dar. Ja, es kann sein, dass es schon einmal merkwürdige Umstände gegeben hat, wo eine Gruppe von Menschen beschlossen hat, mehrere Versammlungen als eine Gemeinde zu bezeichnen. Doch unabhängig, ob wir von den frühen und mittelalterlichen Kirchenstrukturen, von den lutherischen, anglikanischen und presybterianischen Strukturen nach der Reformation und mit Sicherheit von den freikirchlichen Strukturen sprechen, dann hat so gut wie jeder die verschiedenen Versammlungen als verschiedene Gemeinden verstanden und nicht als verschiedene Standorte oder Gottesdienste.

Was heißt das für Gemeinden an mehreren Standorten oder mit mehreren Gottesdiensten?

Was sollten wir demnach von der Multi-Site-Gemeinde halten? Ich ziehe ein Fazit in vier Punkten:

1. Nicht eine, sondern mehrere Gemeinden

Erstens kann eine Multi-Site-Gemeinde, bei der sich niemals alle gemeinsam versammeln, keine Gemeinde sein, weil es die Versammlung ist, die eine Gemeinde ausmacht. Stattdessen handelt es sich um einen Art Bund mehrerer Gemeinden – bestehend aus so vielen Gemeinden, wie es Campusse oder Standorte gibt. Und falls ich es nicht deutlich genug ausgedrückt habe: Ich danke Gott von Herzen für die Arbeit all dieser einzelnen Gemeinden und auch für unsere Zusammenarbeit am Evangelium mit jeder von ihnen!

Natürlich gibt es einige Multi-Site-Gemeinden, die sich tatsächlich drei- oder viermal im Jahr alle gemeinsam versammeln. Wie ordnen wir das ein? Wenn jede der einzelnen Versammlungen in ihren einzelnen wöchentlichen Versammlungen jeweils durch die Predigt und die Sakramente die Vollmacht der Schlüssel ausübt und so jede einzeln Menschen bindet und löst, dann ist jede dieser einzelnen Versammlungen jeweils eine Gemeinde. Wenn das der Fall ist, dann ist die vierteljährliche Versammlung all dieser Gemeinden … ich weiß nicht … etwas anders – vermutlich eine Zusammenkunft von Gemeinden, von der man dann sagen könnte, dass sie sich insofern die Vollmacht der Schlüssel aneignet, als dass sie diese in der größeren Zusammenkunft ausübt.

Mit anderen Worten: Wenn diese einzelnen wöchentlichen Versammlungen das Wort predigen, aber nie die Sakramente feiern, weil sie Taufe, Abendmahl, Gemeindeaufnahme und Gemeindezucht dem vierteljährlichen Treffen vorbehalten, dann ist diese vierteljährliche Versammlung womöglich in gewisser Hinsicht eine Gemeinde. Doch die ganze Sache scheint mir reichlich blutarm, sprich kraftlos, ganz zu schweigen von ungehorsam, zumindest aus Sicht ihrer eigenen Begründung, weil uns das Neue Testament sagt, dass sich eine Gemeinde wöchentlich und nicht vierteljährlich versammeln soll. Wenn die Ausübung der Macht der Schlüssel heißt, dass glaubwürdige Bekenntnisse des Glaubens bestätigt und geheuchelten Bekenntnissen vorgebeugt und diese ausgeschlossen werden, inwiefern ist dann eine Gemeinde, die sich nur viermal im Jahr trifft, überhaupt dazu in der Lage? Und kann sie überhaupt unbescholten solche Entscheidungen treffen, da sich die Mitglieder der verschiedenen Campusse wegen der angelegten Struktur nicht kennen?

Beachte zuletzt, dass das Ausüben der Macht der Schlüssel in großen vierteljährlichen Treffen bedeutet, dass diese Ausübung gewissermaßen vom Dienst des Wortes getrennt sein wird. Mit anderen Worten: Wenn mein Campus von einem Prediger und ein anderer Campus von einem anderen Prediger geprägt wird und sich vierteljährlich alle Campusse gemeinsam als „Gemeinde“ versammeln, um die heikelsten Gemeindegeschäfte zu erledigen (z.B. Gemeindezucht oder die Nominierung von Ältesten), dann werden wir nicht so sehr „eines Sinnes“ sein wie eine Gemeinde mit nur einem Gottesdienst und nur einem Campus, die Woche für Woche denselben Prediger hört.

2. Sich die Schlüssel aneignen

Zweitens machen sich die verschiedenen Standorte oder Gottesdienste (soll heißen, die verschiedenen Gemeinden), sofern sie die Macht der Schlüssel übereinander ausüben, schuldig, sich diese Schlüssel unrechtmäßig angeeignet zu haben. Wenn nur zwei oder drei erforderlich sind, die in seinem Namen versammelt sind und Christi Gegenwart und Vollmacht erkennen, was sollen wir dann davon halten, dass eine andere Versammlung oder eine andere Gruppe sich über die erste Versammlung stellt. Es scheint mir, dass sie damit in die Rechte eines anderen eingreift. Da die apostolische Vollmacht der Versammlung, wie ich glaube, am Priestertum aller Gläubigen hängt, macht sich jede Gruppe (egal ob eine andere Versammlung, eine Gruppe von Ältesten, ein Bischof oder eine andere Organisationsstruktur), die sich über eine Versammlung der Gläubigen stellt, schuldig, sich fälschlich zwischen den Gläubigen und Gott zu stellen. Zugegebenermaßen ist dieser konkrete Punkt der Einwand eines Kongregationalisten.

3. Der Leitung apostolische Vollmacht geben

Die Schlüsselvollmacht der Gemeinde ist eine apostolische Vollmacht. Sie ist die Macht, zu binden und zu lösen. Was sie sagt, gilt. Wenn eine Gemeinde jemanden unter Gemeindezucht stellt, dann kommt diese auch zustande. Das Handeln der Gemeinde hängt in diesem Punkt nicht erst von der Einwilligung des Einzelnen ab. Die biblische Vollmacht eines Ältesten ist, wie ich sie verstehe, nicht apostolisch und hat nicht denselben Gültigkeitsanspruch. Weder ein einzelner Ältester noch der gesamte Ältestenkreis einer Gemeinde erhält in der Schrift dieselbe einseitige Vollmacht, Menschen in die Gemeinde aufzunehmen oder Menschen in der Gemeinde zu korrigieren oder sogar auszuschließen. Früher hätte man es vielleicht so ausgedrückt: Die Gemeinde hat die Vollmacht, zu gebieten, während die Ältesten nur die Vollmacht haben, Ratschlag zu geben. Einer der Gründe für diesen Unterschied liegt darin, dass eine Versammlung wesentlich (esse) für das Bestehen einer Gemeinde ist, während die Ältesten lediglich von Vorteil (bene esse) für das Bestehen einer Gemeinde sind.

Kritikpunkt 2 (Aneignung der Schlüssel) lässt sich auch so formulieren: Eine Multi-Site-Gemeinde legt die apostolische Macht der Schlüssel im Endeffekt nicht in die Hände der Gemeinde, sondern in die Hände der Leitung. Hören wir noch einmal Piper:

„Ich denke, der Kern der biblischen Gemeinschaft und Einheit der Gemeinde hängt von der Einheit des Ältestenkreises, der Einheit in der Lehre und der Einheit in der Herangehensweise an den Dienst ab. Und innerhalb der Gemeinde hängt es dann von wichtigen Beziehungsmustern ab, die aus biblischer Sicht lebensspendend sind und alle biblischen „Einander“-Gebote für das Zusammenleben in der Gemeinde umfassen.“

Pipers Argumentation funktioniert dann, wenn er die Ältesten seiner Gemeinde mit apostolischer Vollmacht ausstatten will. Die „wichtigen Beziehungsmuster“ können in diesem Punkt keinen Beitrag leisten, weil diese Beziehungen auf die verschiedenen Zusammenkünfte oder Gottesdienste aufgeteilt sind. Nein, die vereinende Kraft sind hier die Ältesten und die übergreifende Organisationsstruktur. Die Ältesten und die Organisationsstruktur sind der gemeinsame Faktor, den alle Zusammenkünfte teilen und der sie von anderen Gemeinden unterscheidet. (Aber teilen sie nicht auch alle das Evangelium? Ja, aber das trifft auch auf jede andere Gemeinde auf der Welt zu. Es ist die Organisationsstruktur, die ihre „Gemeinde“ zur „Gemeinde“, zur Bethlehem Baptist Church, macht.) Und da es die Ältesten und deren Programm sind, die diese „Gemeinde“ ausmachen, sind es folglich die Ältesten, die jetzt die apostolische Stellung haben. Sie haben sich in das Wesentliche (das esse) der Gemeinde gedrängt. Das ist, so glaube ich, was jede Multi-Site-Gemeinde im Endeffekt tut.

4. Mehrere Gottesdienste?

Der aufmerksame Leser wird festgestellt haben, dass die Kritik, die ich gegenüber dem Multi-Site-Modell äußere, nicht nur gegen verschiedene Standorte, sondern auch gegen verschiedene Gottesdienste gerichtet ist. Faktisch gibt es keinen substantiellen Unterschied zwischen einem Multi-Site-Modell (mehrere Standorte) und einem Multi-Service-Modell (mehrere Gottesdienste; bei denen die Mitglieder jeweils nur einen der Gottesdienste besuchen, Anm. der Red.). Das eine verteilt die Versammlungen geografisch, das andere zeitlich. Daher überrascht es kaum, dass Gemeindeleiter nach mehreren Jahrzehnten, in denen sich mehrere Gottesdienste normalisiert haben, nun den nächsten Schritt gehen und mehrere Standorte bewerben.

Sage ich, dass eine Gemeinde mit mehreren Gottesdiensten nicht mehr eine Gemeinde ist? Korrekt. Ich sage, dass du als Pastor einer Gemeinde mit zwei Gottesdiensten in Wirklichkeit Pastor zweier Gemeinden bist. Diese Gemeinden sind vielleicht Zwillingsschwestern, weil du beiden vorstehst, aber sie sind zwei verschiedene ekklesias. Das Lustige ist, dass eine ganze Reihe von Pastoren verschiedener Gottesdienste mir gegenüber etwas verlegen zugegeben haben, dass es sich oft so „anfühlt“.

Fazit

Die Befürworter von Gemeinden mit verschiedenen Standorten und Gottesdiensten erwidern auf die Kritik, dass sich in diesem Modell gar nicht alle Gemeindemitglieder kennen können, dass das ab einer bestimmten Gemeindegröße normal sei und dass die Aufteilung der Gemeinde auf verschiedene Gottesdienste oder Standorte die Gemeinschaft daher nicht beeinträchtigt. Außerdem war die Gemeinde in Jerusalem wirklich riesig.

Doch, wofür ich mich hier ausspreche, ist, dass eine konkrete Gemeinde auf der Erde nicht einfach durch die Beziehungen oder die Gemeinschaft ausgemacht wird. Was sie ausmacht, ist die Vollmacht Christi, die einer Versammlung übergeben und von ihr ausgeübt wird. Darum geht diese konkrete Argumentation daran vorbei, was eine Gemeinde ausmacht. Eine regelmäßige Versammlung von 20.000 Menschen, die sich für die Predigt und die Feier der Sakramente versammelt, ist im Prinzip eine Gemeinde, während zwei Gottesdienste mit je zehn Menschen, die einander kennen, nicht mehr eine Gemeinde ist.

Ich gebe gerne zu, dass eine solche Versammlung mit 20.000 Mitgliedern Schwierigkeiten haben wird, verantwortlich und unbescholten die Macht der Schlüssel auszuüben, ähnlich wie es einer „Gemeinde“ ergehen würde, die sich nur viermal im Jahr träfe. Ich bin sogar bereit, zu sagen, dass es einen Moment geben kann, an dem eine einzelne Versammlung nicht mehr erfüllen kann, was Jesus in Matthäus 16 und 18 für die Gemeinde vorsieht, weil 20.000 Menschen, die sich jede Woche in einem Stadion treffen, vermutlich nicht mehr in der Lage sind, die Vollmacht der Schlüssel unbescholten auszuüben. Wir sehen dann auch tatsächlich, wie die Jerusalemer Gemeinde in Apostelgeschichte 6 neue Lösungen finden muss, weil massive Streitigkeiten auftreten. Eine große Gemeinde kann in der Praxis genauso fahrlässig sein, wie es die Multi-Site-Gemeinde im Prinzip ist.

Doch darum geht es. Die Gemeinde, die über mehrere Campusse verteilt ist, kann im Prinzip nicht mehr die Absicht Jesu aus Matthäus 16 erfüllen, weil die Mitglieder der verschiedenen Campusse ganz einfach nicht alle gemeinsam versammelt sind. Die Ironie liegt natürlich darin, dass die Vertreter des Multi-Site-Modells das, was wir im Neuen Testament sehen (sehr große Gemeinden) verwenden, um zu behaupten, dass das existiert, was wir dort nicht sehen (eine Multi-Site-Gemeinde). In dem sie das tun, verpassen sie, was eine Gemeinde laut dem Neuen Testament wirklich ausmacht – auf Erden als auch im Himmel.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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