Mitgliedschaft & Gemeindezucht

Vom Umgang mit Wackelkandidaten

Von Matt Schmucker

Matt Schmucker war der erste Geschäftsführer von 9Marks. Aktuell organisiert er Konferenzen wie Together for the Gospel oder CROSS. Matt ist Mitglied der Capitol Hill Baptist Church in Washington, D.C.
Artikel
01.06.2023

Wie kann es uns gelingen, einzelne Mitglieder unserer Gemeinden auf liebevolle Weise von der Mitgliederliste zu nehmen, ohne dabei Spaltung und verletzte Gefühle bei den verbleibenden Mitgliedern zu verursachen? Pastoren sind zu Recht besorgt über aufgeblähte Mitgliederlisten, die nur ein ungenaues Abbild davon wiedergeben, wer sich tatsächlich in der Gemeinde einbringt. Aber es lässt sich nur schwer vorhersagen, wie diejenigen, die der Pastor schützen möchte – nämlich die aktiven Gläubigen – reagieren werden, wenn er empfiehlt, die Liste zu kürzen. In mehr als einer Mitgliederversammlung unserer Gemeinde sahen wir Älteste uns mit Mitgliedern konfrontiert, die sich plötzlich verletzt oder sogar verärgert zeigten, als wir einen Freund von ihnen zur Streichung vorschlugen. Wir hörten stets die gleiche Aussage von verärgerten Mitgliedern: „Ihr Ältesten handelt zu schnell; ihr berücksichtigt nicht alle Fakten!“

Vor einigen Jahren wurde eine Frau namens „Katja“, einst ein fruchtbares und aktives Mitglied, unzufrieden mit unserer Gemeinde. Über mehrere Monate hinweg wurde sie immer inaktiver und kommunizierte weniger und weniger mit uns. Wir Ältesten erfuhren schließlich über Umwege, dass sie nicht mit unserer Auffassung der komplementären Rollen von Mann und Frau sowie mit der Finanzierung bestimmter Missionsprojekte übereinstimmte. Doch sie brachte ihre Bedenken nie direkt gegenüber einem Leiter zum Ausdruck. Wenn ein Leiter mit ihr sprach, reagierte sie jeweils mit Höflichkeiten, ohne wirklich damit herauszurücken. Schließlich bat sie um ein Treffen mit unserem leitenden Pastor und kündigte ihren Austritt aus der Gemeinde an. Auch bei dieser Gelegenheit äußerte sie keine besondere Kritik. Unser Hauptpastor leitete das Austrittsgesuch an die Ältesten weiter, die es dann bei der nächsten regulären Mitgliederversammlung der gesamten Gemeinde vorlegten. Ab da wurde es chaotisch!

Nachdem die Ältesten den Antrag auf Annahme von Katjas Austritt gestellt hatten, meldete sich ein Mitglied zu Wort und sagte: „Ich habe heute mit Katja zu Mittag gegessen. Sie hat gesagt, dass sie nicht austreten will.“ Weitere Beweise konnten nicht angeführt werden. Die Gemeinde fühlte sich aufgrund der widersprüchlichen Darlegungen hin- und hergerissen und es kam zu einer unangenehmen Situation für die Ältesten, weil deren Integrität in Frage gestellt war. Hatte jemand nicht die Wahrheit gesagt? Versuchten die Ältesten, Katja hinauszudrängen, ehe sie bereit dazu war? War das liebevoll? War es richtig?

In Katjas Fall handelte es sich um einen tatsächlichen Austritt, aber im Allgemeinen stellten wir fest, dass aktive Mitglieder dazu neigten, Einspruch zu erheben, wenn eine Person wegen Nichterscheinens diszipliniert wurde. Das Nichterscheinen ist eine der am schwierigsten zu disziplinierenden Sünden (Heb 10,25–26), weil sie häufig vorkommt und nicht so eklatant ist wie Ehebruch oder Unzucht. Wahrscheinlich werden nur wenige Menschen widersprechen, wenn gegen einen reuelosen Ehebrecher disziplinarische Maßnahmen verhängt werden. Am schwierigsten und, offen gesagt, am gefährlichsten ist jedoch das Mitglied, das sich am Rande der Gemeinde bewegt, seit Monaten nicht mehr gekommen ist, sich in anderen Gemeinden herumgetrieben hat, andererseits jedoch immer noch zu einigen seiner alten Freunde in der Gemeinde Beziehungen unterhält. Dieser Mensch ist weder drinnen noch draußen! Er ist unzufrieden, aber aus irgendeinem Grund will er nicht loslassen.

Aus der Situation mit Katja ergaben sich zwei gute Dinge, die sowohl den Ältesten als auch der Gemeinde zuträglich waren. Erstens verlangt unsere Gemeinde jetzt eine schriftliche Austrittserklärung. Hierbei ist es egal, ob es sich um eine E-Mail, einen Brief oder nur eine Notiz handelt. Aber wenn man etwas Schriftliches hat, gibt es keine peinlichen Momente mehr in den Mitgliederversammlungen wie den mit Katja und ihrer Freundin, die sagte, dass sie nicht austreten wolle.

Zweitens hat unsere Gemeinde eine Liste mit „Wackelkandidaten“ erstellt. Bevor wir eine Person zur Gemeindezucht empfehlen, geben wir den Namen der Person der Gemeinde in einer Mitgliederversammlung als Teil dieser Liste bekannt. Die Ältesten sagen dann so etwas wie: „Willy ist seit fünf Monaten nicht mehr in der Gemeinde gewesen. Die Ältesten Christian und Andreas haben ihn per Telefon und E-Mail kontaktiert. Doch Willy antwortet nicht auf die Nachrichten. Deshalb setzen wir ihn auf die Liste der „Wackelkandidaten“. Wenn du mit Willy befreundet bist, dann setze dich bitte mit ihm in Verbindung. Sag ihm, dass wir ihn lieben, und ermutige ihn, sich unserer Gemeinschaft wieder anzuschließen. Andernfalls werden wir ihn wegen Nichtteilnahme bei unserer nächsten regulären Mitgliederversammlung von der Mitgliederliste streichen“ – die übrigens alle zwei Monate in unserer Gemeinde stattfindet.

Wir nennen den Namen (Willy), den Grund, warum wir besorgt sind (Nichterscheinen), die Schritte, die wir bereits unternommen haben (die Ältesten Christian und Andreas sind ihm nachgegangen), und was die Gemeinde in zwei Monaten zu erwarten hat (einen Antrag auf Gemeindezucht). Wir sagen den Leuten auch, dass sie sich nach der Versammlung an uns wenden sollen, wenn sie unmittelbare Informationen haben – die Namen auf der Liste werden also vorab öffentlich bekannt gegeben, um sich später eine Diskussion an Ort und Stelle zu ersparen.

Wozu dieser ganze Aufwand? Zu oft hatten wir erlebt, dass Satan die Neuheit oder Plötzlichkeit eines Antrags auf Gemeindezucht in unseren Versammlungen ausnutzte. Die Ältesten hatten monatelang vergeblich mit einem unzufriedenen Mitglied gearbeitet, und oft hatten sie dies getan, ohne die Versammlung über den Kampf zu informieren. Wenn der Antrag auf Streichung dann der Gemeinde vorgelegt wurde, kam die Information für viele zu plötzlich. Manchmal verkraftete die Gemeinde die Nachricht ohne mit der Wimper zu zucken. Doch manchmal erschütterte die Nachricht die Gemeinde sehr. Und selbst wenn die Gemeinde geneigt war, der Empfehlung der Ältesten zu folgen, konnte man doch ein gewisses Zögern spüren. Unbeantwortete Fragen hingen in der Luft, und der ganze Prozess schien das Vertrauen der Gemeinde in die Ältesten zu untergraben. Mit der Einführung der Liste der „Wackelkandidaten“ begannen wir jedoch, uns mit unseren Bedenken über eine Person an die ganze Gemeinde zu wenden, bevor wir einen formellen Akt der Gemeindezucht beantragten.

Diese Liste ist bei uns gewachsen und umfasst nun mehr als die anstehenden Disziplinarfälle. Wir sprechen jetzt auch andere Angelegenheiten an, wie z.B. die Bedürfnisse der Mitglieder aufgrund von gesundheitlichen oder finanziellen Problemen. Manchmal haben Mitglieder sogar darum gebeten, ihre eigenen Namen auf diese Liste zu setzen, damit die Gemeinde weiß, dass sie in einer Zeit sind, in der sie besondere Zuwendung brauchen.

Wir veröffentlichen diese Liste nicht, sondern teilen den Gemeindemitgliedern bei einer Mitgliederversammlung (die für Nichtmitglieder geschlossen ist!) mündlich mit, wer auf der Liste steht. Dadurch werden mögliche unangenehme Peinlichkeiten vermieden.

Diese einfache Idee hatte viele Vorteile. Erstens hat sie den „Überraschungsmoment“ beseitigt, den Satan regelmäßig auszunutzen schien. Zweitens hat sie die Ältesten vor ungerechtfertigten Anschuldigungen geschützt. Drittens, und das ist das Beste von allem, hat es die gesamte Gemeinde in das Gebet einbezogen und sie dazu veranlasst, ihre Mitglieder eindringlich zu bitten, in die Gemeinde zurückzukehren und ihr Treueversprechen zu erfüllen. Ich freue mich, sagen zu können, dass nach jahrelanger Arbeit mit dieser Liste Themen, die einst trennend waren, nun dazu dienen, sowohl die Gemeinde als auch die Beziehungen zwischen Leitern und Gemeinde zu einen, zu stärken und zu schützen.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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