Gemeinsames Leben

Jüngerschaft darf das Evangelium nicht voraussetzen

Von Barry Cooper

Barry Cooper ist Ältester der Christ Community Church in Daytona Beach, Florida (USA), und arbeitet als Supervising Producer bei Ligonier Ministries. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Drehbücher, einschließlich Can I Really Trust The Bible? und Puritan.
Artikel
01.05.2022

Dieser Artikel ist Teil einer Artikelreihe zum Thema „Jüngerschaft“ und beleuchtet verschiedene Gründe, warum in unseren Gemeinden keine Jüngerschaft stattfindet.


In den letzten Beiträgen habe ich auf vier Gründe hingewiesen, warum wir keine Jüngerschaft leben, obwohl Christus uns dazu aufgefordert hat.

Der fünfte und letzte Grund, warum wir diesen Auftrag nicht ernst nehmen, betrifft unterschwellig alles, was ich bisher geschrieben habe: Unsere Gemeinden schämen sich zu oft für das Evangelium und setzen es daher voraus.

Vor kurzem wurde ich eingeladen, in einer Gemeinde in der Nähe von London zu predigen. Aufgrund sinkender Zahlen unternahm die Gemeinde große Anstrengungen, um junge Menschen anzulocken. Sie hatten einen weiteren Gottesdienst zu einem günstigeren Zeitpunkt hinzugefügt, luden Gastredner aus dem ganzen Land ein, gaben Geld für Marketing aus und hatten eine Lobpreisband bezahlt, die aus 160 Kilometern Entfernung anreiste.

Ich unterhielt mich mit einem sympathischen Gemeindemitglied über die Gründe für die schwindende und aus hauptsächlich älteren Personen bestehende Besucherzahl. „Die Frage könnte etwas unangenehm sein“, sagte ich, „aber wie sieht es bei euch mit der Verkündigung des Evangeliums aus?“ Seine Antwort kam mit einem verständnisvollen und leicht verlegenen Lächeln. „Nun“, sagte er, „wir müssen den Menschen geben, was sie wollen“.

Ich erinnerte mich an die Worte von Martin Lloyd-Jones: „Wenn wir die Gemeinde nicht [mit dem Evangelium] voll predigen können, lasst sie leer bleiben.“ Warum? Weil eine Gemeinde, die durch Methodik, Marketing oder Musik gefüllt wird, keine Gemeinde ist, die voll von Jüngern ist.

Es ist wahr, dass diese Dinge kurzfristig zu einem zahlenmäßigen Anstieg führen können. Aber wie Mark Dever schreibt: „Das Wachstum, über das im Neuen Testament gesprochen, zu dem aufgerufen und für das gebetet wird, ist nicht bloß zahlenmäßiges Wachstum. Wenn sich in Ihrer Gemeinde heute mehr Menschen tummeln als noch vor ein paar Jahren, heißt das dann, dass Sie eine gesunde Gemeinde haben? Nicht unbedingt“ (Neun Merkmale einer gesunden Gemeinde, S. 214).

„Wachstum“ ohne die regelmäßige, wahrheitsgetreue Lehre des Evangeliums ist Wachstum ohne Tiefe. So weit wie der Ozean, aber nur so tief wie eine Pfütze. Wenn wir sowohl Tiefe als auch Breite wollen, gibt es keinen Ersatz für Predigten und Gespräche, die voll vom Evangelium sind.

Ein letzter Punkt noch. Es besteht die Gefahr, dass sogar Gemeinden, die von sich sagen, ein Herz für das Evangelium zu haben und „evangeliumszentriert“ zu sein, aus dem Evangelium buchstäblich eine solche Herzensangelegenheit machen, dass es in Wirklichkeit verborgen bleibt.

Wir mögen den Name „Jesus“ häufig erwähnen, das Wort „Evangelium“ verwenden und Gottes Wort zitieren. Aber es kommt letztlich nie dazu, dass wir uns gegenseitig daran erinnern, wer Jesus wirklich ist, was er getan hat und was das für uns bedeutet. Unglücklicherweise setzen wir so das Evangelium voraus, anstatt es tatsächlich zu verkünden.

Ich hoffe, dass ich der einzige bin, aber ich habe dies immer wieder in Gemeinden beobachtet, die sich als bibelgläubig und evangelikal bezeichnen. Bei einem Urlaub vor kurzem in Wales hatte ich das Privileg, zu einer kleinen Gruppe von Gläubigen dazu zu stoßen, die sich in einer großen und prunkvollen Kirche versammelte. Die Begrüßung war herzlich und fast entschuldigend: „Leider kommen heutzutage nicht viele junge Leute.“ Der Pastor predigte aus 1. Timotheus 3 über die Gefahr des Reichtums. Was gesagt wurde, war wahr. Aber leider blieb auch vieles ungesagt.

D. A. Carson macht in seinem Buch Basics for Believers diese weise Beobachtung:

In einem großen Teil der westlichen evangelikalen Welt gibt es eine besorgniserregende Tendenz, sich auf die das Drumherum zu konzentrieren. [Mein] Kollege […], Dr. Paul Hiebert, […] hat einen mennonitischen Hintergrund und betrachtet dieses Erbe auf eine Weise, die er selbst als eine vereinfachende, aber dennoch nützliche Karikatur ansehen würde. Eine Generation von Mennoniten glaubte an das Evangelium und vertrat auch die Auffassung, dass es bestimmte soziale, wirtschaftliche und politische Auswirkungen habe. Die nächste Generation setzte das Evangelium voraus, identifizierte sich aber mit den Auswirkungen. Die folgende Generation lehnte das Evangelium ab: Die ,Auswirkungen‘ ersetzten alles. Wenn wir dieses Schema auf den Evangelikalismus übertragen, kann man meinen, dass sich ein Großteil der Bewegung in der zweiten Stufe bewegt und einige unter ihnen in Richtung der dritten driften.

Dies ist kein Plädoyer für […] ein Evangelium ohne soziale Auswirkungen. Wir lesen aufmerksam die Berichte über die evangelikale Erweckungsbewegung in England und die Große Erweckung in Amerika sowie die außerordentlichen Dienste von Howell Harris, George Whitefield, den Wesley-Brüdern und anderen. Wir erinnern uns zu Recht daran, wie ihre Bekehrten unter Gottes Führung die Kämpfe zur Abschaffung der Sklaverei, zur Reform des Strafgesetzbuchs, zur Gründung von Gewerkschaften, zur Umwandlung von Gefängnissen und zur Befreiung von Kindern von der Arbeit in den Minen geführt haben. Die gesamte Gesellschaft wurde verändert, weil wahrhaftig bekehrte Männer und Frauen sahen, dass das Leben gottesfürchtig und gottgefällig gelebt werden müsse.

Aber diese Männer und Frauen stellten das Evangelium ausnahmslos an die erste Stelle. Sie erfreuten sich daran, predigten es, schätzten das Lesen und die Auslegung der Bibel, die auf Christus und das Evangelium ausgerichtet waren, und engagierten sich auf dieser Basis auch im sozialen Bereich. Kurz gesagt, sie stellten das Evangelium an die erste Stelle, nicht zuletzt in ihren eigenen Bestrebungen. Diese Priorität nicht zu sehen bedeutet, dass wir nicht mehr als eine Generation davon entfernt sind, das Evangelium zu leugnen. (S. 26–28, eigene Hervorhebungen)

Wenn Carsons Beobachtung wahr ist, haben wir nicht nur eine Verantwortung gegenüber unserer gegenwärtigen Gemeinde, sondern auch gegenüber zukünftigen Gemeinden.

Im 19. Jahrhundert identifizierte der Prediger Charles Spurgeon ein ähnliches Problem:

Ich glaube, dass jene Predigten, die am meisten von Christus getränkt sind, auch den größten Segen zur Bekehrung der Zuhörer bereithalten. Lasst eure Predigten von Anfang bis Ende voller Christus sein, vollgepackt mit dem Evangelium. Was mich angeht, Brüder, kann ich nichts anderes predigen als Christus und sein Kreuz, denn ich kenne nichts anderes, und vor langer Zeit habe ich wie der Apostel Paulus beschlossen, nichts anderes zu kennen als Jesus Christus, ihn, den Gekreuzigten.

Die Leute haben mich oft gefragt: „Was ist das Geheimnis Ihres Erfolges?“ Ich antworte immer, dass ich kein anderes Geheimnis habe als dieses: Ich habe das Evangelium gepredigt – nicht über das Evangelium, sondern das Evangelium. (The Soul Winner, S. 35, eigene Hervorhebungen).

Brüder und Schwestern, setzen wir in unserem Jüngerschaftsauftrag – ob von der Kanzel oder im alltäglichen Gespräch – das Evangelium nur voraus? Sprechen wir über das Evangelium, ohne zu erklären, was es tatsächlich ist? Schämen wir uns letztendlich dafür?

Tiefergehende Jüngerschaft, nach der wir uns in unseren Gemeinden sehnen, wird nur eintreffen, wenn wir aufhören, das Evangelium vorauszusetzen und es tatsächlich verkünden.


Dieser Artikel wurde in Zusammenarbeit mit Evangelium21 übersetzt. Mehr evangeliumszentrierte Ressourcen gibt es auf evangelium21.net.

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